Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ihr hinterher.
»Wahrscheinlich!«, gab sie zurück. »Wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
Rasch kletterte sie den Stamm hinab, dabei nutzte sie aber nicht die Sicherheitsleinen und Fußtritte, sondern grub ihre Klauen in die Rinde, um schneller voranzukommen. Als sie bei den beiden ausladenden Ästen anlangte, an denen das Heim ihrer Familie befestigt war, krabbelte sie auf einem der Zweige entlang und schwang sich hinab, sodass sie durch ihr Schlafzimmerfenster in die Hütte glitt. Sie landete auf der dicken, mit Blättern gepolsterten Matratze ihres Bettes, das die gesamte Fläche des Zimmers einnahm. Kurz darauf war sie im Wohnzimmer. »Ich bin da«, verkündete sie atemlos.
Ihre Mutter saß im Schneidersitz in der Mitte des kleinen Raums. »Warum tust du mir das an?«, fragte sie aufgebracht. »Willst du mir damit etwas heimzahlen, nachdem dein Vater mir rundheraus verboten hat, über das Angebot zu sprechen? Willst du Schande über unsere ganze Familie bringen? Was sollen denn die Leute von uns denken? Was sollen sie von mir denken? Bist du zufrieden, wenn sie uns endgültig aus Trehaug vertreiben? Reicht es dir nicht, dass wir deinetwegen schon so hoch in den Wipfeln leben, wie es irgend geht? Glaubst du, deshalb könntest du unseren Ruf auch gleich vollends zuschanden machen?«
In den Baumkronen wuchs eine Blume namens Schützenblume. Sie sah ebenso lieblich aus, wie sie duftete, doch sobald man ihren Stiel berührte, schossen daraus winzige Dornen hervor, die einem in die Haut fuhren. Die Fragen ihrer Mutter trafen sie wie ein Hagel solcher Dornen, und jeder Schuss traf, ohne dass sie Gelegenheit gehabt hätte, zu reagieren. Als ihre Mutter innehielt, um Luft zu holen, bebte ihre Brust und sie hatte hochrote Wangen.
»Ich habe doch gar nichts getan! Ich habe weder mir noch meiner Familie Schande gebracht!« Thymara war derart entsetzt, dass sie kaum sprechen konnte.
Doch ihre Worte ließen die Augen ihrer Mutter nur umso wütender funkeln. Es sah aus, als würden sie gleich aus ihren Höhlen heraustreten. »Was! Wagst du es, mir einfach so ins Gesicht zu lügen? Schamlose! Schamlose! Denn ich habe dich gesehen, Thymara! Jeder konnte dich sehen, frei vor aller Augen bist du da oben gesessen und hast mit diesem Mann getändelt. Du weißt, dass dir das verboten ist! Wie kannst du zulassen, dass er dir Besuche macht? Wie kannst du zulassen, dass er dir ohne Begleitung Gesellschaft leistet?«
Thymara brauchte eine Weile, um einen Sinn in den Worten ihrer Mutter zu erkennen. »Tats? Du meinst Tats? Er arbeitet manchmal für Pa, auf dem Markt. Du hast ihn doch schon gesehen. Du kennst ihn!«
»In der Tat! Ist übers ganze Gesicht tätowiert wie ein Verbrecher, und jeder weiß, dass er der Sohn einer Diebin und Mörderin ist! Schlimm genug, dass sich jemand wie du überhaupt die Aufwartung eines Mannes machen lässt, aber dass du dir dann auch noch den übelsten Abschaum aussuchst!«
»Mutter! Ich … Er ist bloß ein Junge, der Vater manchmal auf dem Markt aushilft! Nur ein Freund. Weiter nichts. Ich weiß, dass ich niemals … dass mir niemals jemand den Hof machen darf. Wer würde das auch wollen? Du bist ungerecht. Und töricht. Sieh mich doch an! Glaubst du wirklich, dass Tats zu mir gekommen ist, um mich zu umwerben?«
»Warum nicht? Eine andere würde ihn sowieso nicht nehmen. Wahrscheinlich denkt er, dass du ohnehin kein besseres Angebot bekommen wirst und deshalb jeden nimmst, den du kriegen kannst, nur um auf deine Kosten zu kommen. Weißt du, was unsere Nachbarn mit uns anstellen würden, wenn du schwanger würdest? Weißt du, was das Konzil über uns verfügen würde? Oh, ich habe Vater von Anfang an gewarnt, dass es dazu kommen würde. Aber nein, er wollte ja nicht hören, nicht ein einziges Wort! Was soll daraus werden, habe ich ihn gefragt, was für ein Leben wartet auf sie? Und er sagte: ›Nein, nein, ich kümmere mich schon um sie, ich sorge dafür, dass sie niemandem zur Last fällt und dass sie uns keine Schande macht.‹ Nun, und wo ist er jetzt? Das Angebot für dich hat er ausgeschlagen, ohne mich überhaupt anzuhören, und dann verschwindet er und lässt mich hier allein zurück, um auf dich aufzupassen, während du dich abseits schlägst und zur Schau stellst!«
»Mutter, ich habe nichts Unrechtes getan. Nichts. Wir haben uns nur unterhalten. Das war alles. Tats hat mir keine schönen Augen gemacht. Wir haben lediglich miteinander gesprochen, und wie du schon richtig gesagt
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