Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
tranken.
»Und jetzt habe ich keinen Bogen«, seufzte Thymara.
Die großen Ohren des Hirschs zuckten vor und zurück. Er stieß einen kehligen Laut aus, eine Art Bellen, und die anderen hoben sofort die Köpfe. Obwohl Alise nicht erkennen konnte, dass er ein Zeichen gegeben hätte, zogen sie sich unvermittelt in den Schutz der Bäume und des Dickichts zurück. Als Letzter wandte sich der Bulle um und verschwand. Insgeheim war Alise froh, dass Thymara keinen Bogen hatte. Sie hätte nur ungern eines der Tiere sterben sehen und schon gar nicht beim Ausnehmen mitgeholfen.
»Würde der blöde Greft seine Ausrüstung nicht nur für sich behalten, hätten wir heute Abend frischen Wildbraten«, grummelte Thymara.
»Vielleicht erlegen die Jäger etwas.«
»Vielleicht auch nicht«, gab Thymara mürrisch zurück. Sie ging weiter, indem sie sich ans Ufer hielt, und Alise folgte ihr. »Warum wolltet Ihr mich begleiten?«, fragte sie unvermittelt. Dabei klang sie weniger unfreundlich als verwundert.
»Um zu sehen, was du machst und wie du es machst. Um Zeit mit dir zu verbringen.«
Thymara warf einen erstaunten Blick zurück. »Mit mir?«
»Manchmal tut es gut, mit einer Frau zusammen zu sein. Bellin ist zwar nett zu mir, aber mit Swarge hat sie alles, was sie braucht. Wenn sie Zeit mit mir verbringt, weiß ich, dass es vor allem ein Gefallen ist, den sie mir tut. Skelly ist beschäftigt und interessiert sich nur für das Schiff. Sylve ist süß, aber jung. Jerd ist …«
»Jerd ist ein gemeines Miststück«, ergänzte Thymara, als Alise zögerte, um nach einer diplomatischen Formulierung zu suchen.
»Stimmt!«, pflichtete ihr Alise bei und lachte schuldbewusst. »Zumindest im Moment. Bevor sie schwanger wurde, hat sie sich zu sehr für die Jungs interessiert, um sich mit mir zu unterhalten. Und nun dreht sich ihr Leben nur noch um ihren Bauch. In welch eine Lage ist sie da nur geraten?«
»Vielleicht hätte sie darüber nachdenken sollen, bevor sie in diese Lage gekommen ist«, meinte Thymara.
»Bestimmt hätte sie das tun sollen. Aber, nun ja, jetzt steckt sie eben drin, und wir müssen uns Mühe geben und freundlich zu ihr sein.«
»Warum?« Thymara wartete mit der eigentlichen Erwiderung, bis sie über einen umgestürzten Baumstamm gestiegen war und Alise das Hindernis ebenfalls überwunden hatte. »Glaubt Ihr, sie wäre freundlich zu Euch oder zu mir, wenn die Lage andersrum wäre?«
Alise dachte kurz darüber nach. »Wahrscheinlich nicht. Aber das enthebt uns nicht der Pflicht, das zu tun, was richtig ist.« Selbst in ihren eigenen Ohren klang das ein wenig selbstgerecht. Sie beobachtete Thymara, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Aber das Regenwildmädchen hatte den Kopf in den Nacken gelegt, um an den Bäumen hinaufzuschauen.
»Riecht Ihr etwas?«
Bisher hatte Alise nichts gerochen, doch nun schnupperte sie aufmerksamer. »Vielleicht«, sagte sie vorsichtig. »Bisschen süß, beinahe faulig.«
Thymara nickte. »Macht es Euch etwas aus, wenn ich Euch hier zurücklasse und den Baum hochklettere? Ich vermute, dass dort Fruchtranken sind.«
Erst jetzt, als Alise in den Baum hinauf sah, wurde ihr bewusst, dass Thymara wahrscheinlich ihretwillen am Boden geblieben war. »Nein, natürlich nicht, geh ruhig. Ich komme hier unten schon zurecht.«
»Ich bin bald zurück«, versprach Thymara. Sie wählte einen Baum in der Nähe und stieg an ihm hoch, indem sie die Klauen in seine Rinde bohrte. Alise blieb zurück und sah zu, wie das Mädchen in Höhen verschwand, in die ihr zu folgen sie nicht hoffen konnte. Sie lächelte, doch wurde ihr dabei schwer ums Herz.
»Was habe ich mir nur eingebildet?«, fragte sie sich mit einem Seufzen, während Thymara ihren Blicken entschwand. »Dass ein solches Mädchen mir seine Freundschaft anbieten oder mir mit meinen Problemen helfen würde? Selbst wenn wir im selben Alter wären, würde uns doch zu viel unterscheiden.« Sie trat ein paar Schritte von dem Baum zurück und versuchte, einen Blick auf Thymaras Welt zu erhaschen. Es war hoffnungslos. Ich sehe Hirsche, und sie sieht Fleisch. Ich bin hier am Boden, und sie ist auf den Bäumen. Ich habe Mitleid mit Jerd, und sie ist der Meinung, dass wir sie zur Verantwortung ziehen sollten. Alise schaute sich um. Der Wald war anders und schien irgendwie einladender zu sein. Sie brauchte einige Zeit, bis ihr klar wurde, dass der Unterschied im Geruch lag. Hier roch man weniger die Säure, an die sie sich während der Reise so sehr
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