Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
gewöhnt hatte. Als sie zu den Baumwipfeln blickte, meinte sie, dass hier mehr Vögel, überhaupt mehr Tiere lebten. Ein sanfterer Ort, dachte sie.
Thymara hatte versprochen, dass sie gleich wieder zurück sein würde. Hieß das, dass Alise auf sie warten sollte? Sie war dem Regenwildmädchen gefolgt, weil sie gehofft hatte, ein paar Stunden mit Thymara würden ihr helfen, ihr eigenes Leben wieder ins rechte Lot zu rücken. Und jetzt stand sie da und wartete.
Sie schüttelte den Kopf, als ihr klar wurde, dass dies womöglich das rechte Licht war. Dass Thymara etwas tat, während sie nur stand und wartete. Hatte sie das nicht die ganzen letzten Tage über getan? Sie hatte sich den Kopf über Leftrin zermartert und über das, was Sedric ihr über den Kapitän erzählt hatte. Und über das, was Hest ihr angetan hatte. Sie hatte gegrübelt, gerungen und sinniert, hatte aber nichts getan, außer darauf zu warten, dass etwas passierte und dass die Dinge sich von selbst klärten. Was konnte sie auch schon tun? Nun, eine Sache fiel ihr sofort ein, doch sie schüttelte energisch den Kopf. Dass sie daran überhaupt noch so oft dachte! Zurückzurennen und wieder in Leftrins Bett zu steigen, wäre keine wirkliche Lösung ihrer Probleme.
Als wäre dies eine Entscheidung, ging sie weiter am Ufer entlang. Sie würde nicht auf das Mädchen warten. Wenn Thymara herunterkäme, würde sie entweder weiter dem Fluss folgen oder zum Kahn zurückkehren. Sie wusste ja, wo sie war. Sollte es dunkel werden, bevor sie Thymara wiedersah, brauchte sie nur am Fluss entlangzugehen, um zurück zum Schiff zu gelangen. Sie konnte sich nicht verirren.
Zumindest nicht mehr verirren, als sie es ohnehin schon tat. Denn sie hatte kein Zuhause mehr.
Seit Sedric ihr sein Geheimnis offenbart hatte, fühlte sie sich von ihrer Vergangenheit in Bingtown abgeschnitten. Sie konnte nicht dorthin zurück. Das war völlig unmöglich. Ganz gleich, wie diese Expedition enden würde, nach Bingtown und zu Hest zurückzukehren kam nicht infrage. Sie würde ihm und ihren Freunden niemals ins Gesicht blicken, sie würde nicht dümmlich lächelnd am Tisch sitzen und dabei rätseln, wie viele der Anwesenden das Geheimnis ihrer falschen Ehe kannten. Sie würde Hest nie entgegentreten und sein breites Grinsen angesichts ihrer Demütigung ertragen. Schließlich saß sie nicht länger in der Falle. In Bingtown war eine Ehe nichts als ein Vertrag zwischen Händlern. Sie konnte leicht beweisen, dass Hest seine Verpflichtungen nicht erfüllt hatte. Er war ihr von Anfang an nicht treu gewesen und hatte von vornherein nicht beabsichtigt, sie und nur sie allein zu seiner Lebenspartnerin zu nehmen. Er hatte sein Wort und damit den Ehevertrag gebrochen. Damit war auch sie ihren Verpflichtungen enthoben. Sie brauchte ihm nicht mehr treu zu bleiben und konnte sich guten Gewissens Leftrin zuwenden.
Aber dann hatte Sedric ihr dieses Gerücht in den Kopf gesetzt. Und seitdem fragte sie sich, ob sie ihrem Urteilsvermögen jemals wieder trauen konnte. Er war sich dessen so sicher gewesen, doch all seine Informationen stammten von einer einzigen Quelle, dem verschwundenen Jäger Jess. Seither fühlte sie sich gelähmt und nicht in der Lage, in irgendeine Richtung weiterzugehen. Sie begehrte und sehnte sich nach Leftrin, wie sie nie zuvor etwas ersehnt oder jemanden begehrt hatte. Doch der Gedanke, dass er womöglich nicht war, für wen sie ihn gehalten hatte, dass sich der tatsächliche Mensch vielleicht von ihrem eingebildeten Liebhaber unterschied, ließ sie erstarren. Sie hatte die Verwunderung in seinen Augen gesehen, doch er blieb geduldig. Er hatte sich nicht beklagt und sie nicht unter Druck gesetzt. Offensichtlich schien er wegen der gemeinsamen Liebesnacht keinen Anspruch auf sie zu erheben. Das musste doch etwas heißen, oder etwa nicht?
Oder bedeutete das lediglich, dass sie ihm nicht so wichtig war, wie er es ihr war? War sie nur ein Vergnügen, das er sich gönnte, wenn es sich ihm bot, etwas, das er aber auch genauso gut sein lassen konnte? In einem grausamen Winkel ihres Bewusstseins spielte sie jene Nacht noch einmal durch. Sie war zielstrebig, ja sogar fordernd gewesen. War dies alles nur passiert, weil sie es heraufbeschworen hatte? Wie dumm von ihr, dies zu glauben. Und wie töricht, zu denken, es wäre nicht so.
»Verdammt, Sedric. Du hast mir alles genommen, meine Würde, das Vertrauen in meine Urteilskraft, meine Überzeugung, dass niemand in Bingtown wusste, was
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