Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
Wandbehang, und wenn Thymara nicht so wütend gewesen wäre, hätte diese Schönheit sie ergriffen. Sintara spürte ihr Staunen und plusterte sich auf, indem sie die Schwingen hob und entfaltete, sodass ihr Leuchten nicht zu übersehen war. Ihre Flügel waren weniger durchsichtig und größer, als Thymara sie in Erinnerung hatte.
»Mit jedem Tag werde ich kräftiger und schöner«, sprach der Drache ihre Gedanken aus. »Diejenigen, die behaupteten, ich würde niemals fliegen, werden dereinst alles zurücknehmen. Nur Tintaglia kann es mit mir an Macht und Schönheit aufnehmen, und eines Tages werde ich sie überflügeln. Ich schäme mich nicht, dies zu sagen. Denn ich weiß, was ich bin. Warum also sollte ich die Gesellschaft eines furchtsamen Beutetiers ertragen, das vor Selbstmitleid kreischt und plärrt und es nicht einmal wagt, sich dem zu stellen, das sich ihm anbietet.«
»Sich dem zu stellen …« Das Eis in Alises Stimme schmolz, bevor ihre Worte vor Verwirrung vollends zum Erliegen kamen.
»Gewiss.« Die Drachin bedachte ihre Begriffsstutzigkeit mit Hohn. »Er hat sich dargeboten. Er ist kräftig und gesund. Er folgt dir und schnüffelt dir hinterher. Er hofiert dich und bewundert deine Schläue. Vor mir kannst du nicht verbergen, dass du dir seines Verlangens bewusst bist und dass du ihn anziehend findest. Aber bevor du ihn nimmst, solltest du ihn vor eine Herausforderung stellen. Natürlich kannst du keinen Paarungsflug mit ihm machen, damit er versucht, dich zu besteigen und du dich wehrst, um sein Können auf die Probe zu stellen. Aber einst haben sich die Elderlingsmänner auf andere Arten bewähren müssen. Fordere ihn heraus.«
»Ich bin kein Elderling«, erklärte Alise. Durch ihr Schweigen tat Thymara kund, dass sie die übrigen Aussagen Sintaras nicht infrage stellte. Aber wer war der Verehrer Alises, den Sintara für Wert erachtete? Sedric, fiel ihr plötzlich ein. Der gut aussehende Mann aus Bingtown, der Alise auf jeden Wink hin folgte. War er vorhin wegen Alise an Land gegangen? Hoffte er auf ein Stelldichein mit ihr? Bei diesem Gedanken spürte Thymara ein solch voyeuristisches Kribbeln, dass sie erschrak. Was war nur mit ihr los? Strikt untersagte sie sich die Vorstellung von den beiden, wie sie sich bäuchlings aneinanderschmiegten, wie Greft und Jerd es getan hatten.
»Und ich bin verheiratet.« Diese zweite Erklärung schien weniger das Aussprechen einer Tatsache, sondern das Eingestehen eines Unglücks zu sein.
»Warum bindest du dich an einen Partner, den du nicht begehrst?«, fragte die Drachin. Offenbar war sie aufrichtig verwundert. »Warum gehorchst du einem Gesetz, das dich nur unglücklich macht? Was hast du davon?«
»Ich stehe zu meinem Wort«, gab Alise schwermütig zurück. »Und meiner Ehre. Hest und ich haben eine Abmachung getroffen. Im guten Glauben haben wir uns gegenseitig Versprechen gegeben und uns Treue geschworen. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ich damit aufgab. Für Schriftrollen, ein komfortables Heim und gutes Essen auf dem Tisch habe ich mich selbst verschachert. Es war ein dummer Handel, aber wir stehen beide treu zu unserem Wort. Deshalb werde ich mich, wenn all das hier vorbei ist, von Leftrin, den Drachen und der Zeit, in der ich zum ersten Mal wirklich gelebt habe, verabschieden, nach Hause zurückkehren und mein Bestes tun, um meinem Gatten einen Erben zu schenken. Denn das habe ich versprochen. Solltest du mich für die kreischende und plärrende Beute in den Pranken eines Raubtiers halten, dann hast du damit vielleicht recht. Vielleicht aber braucht es eine ganz andere Art von Kraft, um mein Wort zu halten, wenn gleichzeitig jede Faser meines Körpers danach schreit, es zu brechen.«
Sintara schnaubte verächtlich. »Du glaubst doch wohl nicht, dass er sein Versprechen gehalten hat.«
»Ich habe keinerlei Beweise, dass dem nicht so ist.«
»Nein. Du selbst bist der einzige Beweis, dass er etwas gebrochen hat. Denn du bist zerbrochen.« Herzlos teilte die Drachin ihr das mit.
»Wohl möglich. Aber mein Wort und meine Ehre sind noch unversehrt.« Alise hatte zunehmend abgehackt gesprochen. Bei den letzten Worten verbarg sie das Gesicht in den Händen. Eine Weile wimmerte sie lautlos. Dann entrang sich ihr ein schweres, gequältes Schluchzen. Thymara trat zu ihr hin und tätschelte ihr zaghaft die Schulter. Noch nie hatte sie versucht, jemanden zu trösten. »Ich verstehe«, sagte sie leise.
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