Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
auf einen kräftigen, beinahe waagerechten Ast, obwohl sie nicht gut klettern konnte. Hier war Platz genug, um sich hinzulegen, aber stattdessen setzte Alise sich in der Mitte des Astes im Schneidersitz hin.
»Ist Euch kalt?«, fragte Thymara.
»Nein, das Kleid hält erstaunlich warm. Nur mein Gesicht und meine Hände brennen vom Flusswasser.«
»Ich glaube, mich haben die Schuppen vor dem Schlimmsten bewahrt«, sagte Thymara und wunderte sich, dass sie es laut ausgesprochen hatte.
Die Frau aus Bingtown nickte. »Dann beneide ich dich darum. Die Elderlingsrobe schien mich vor dem Wasser zu schützen, auch wenn ich nicht verstehe, wie. Ich wurde sehr schnell wieder trocken, nachdem ich im Wasser war. Und dort, wo das Kleid mich bedeckt, spüre ich keinerlei Reizung auf der Haut.«
Tats zuckte mit den Schultern. »Viele Elderlingsartefakte können unglaubliche Sachen. Windspiele, die Melodien spielen, wenn eine Brise weht. Metall, das leuchtet, wenn man es berührt. Juwelen, die nach Parfüm riechen und ihren Duft nie verlieren. Das ist schlichtweg Zauberei.«
Thymara nickte und fragte: »Wie viele von uns sind hier?«
»Die meisten«, gab er zurück. »Alle haben Kratzer und Prellungen. Kase hat eine hässliche Wunde am Bein, aber offenbar hat das Wasser sie ausgebrannt. Das ist vermutlich ein Segen, da wir kein Verbandszeug haben. Ranculos wurde von etwas an der Rippe getroffen. Wenn er schnaubt, kommt ihm Blut aus der Nase, aber er beteuert, dass das heilt, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Harrikin hat uns das Gleiche gesagt, er meint, dass Ranculos es nicht leiden kann, wenn man großes Aufhebens um ihn macht. Boxter hat einen Schlag ins Gesicht abbekommen. Er hat zwei blaue Augen und sieht fast nichts mehr. Zunder hat sich am Flügel wehgetan, und erst dachte Nortel, er sei gebrochen. Aber die Schwellung hat nachgelassen, und jetzt kann er ihn wieder bewegen, sodass wir lediglich von einer Verstauchung ausgehen. Alle sind irgendwie verletzt, aber zumindest sind sie da.«
Thymara starrte ihm ins Gesicht. »Und weiter?«, drängte Alise.
Er holte Luft. »Alum ist verschollen. Und Warken. Alums Drache ruft noch immer nach ihm, deshalb fragen wir uns, ob er noch am Leben ist. Wir haben versucht, mit Arbuc zu reden, aber niemand versteht ihn richtig. Es ist, als würde man mit einem verängstigten kleinen Kind sprechen. Er ruft nur immer nach Alum und wiederholt, dass er kommen und ihn aus dem Wasser holen soll. Warkens Roter schweigt. Baliper weigert sich, mit jemandem zu sprechen. Veras, Jerds Drachin, wird ebenfalls vermisst. Seit sie hier angekommen ist, heult Jerd in einem durch. Sie behauptet, dass sie ihre Drachin nicht ›spüren‹ kann, deshalb glaubt sie, dass sie ertrunken ist.«
»Wir haben Veras gesehen! Sie war am Leben und ist tüchtig geschwommen, aber die Strömung hat sie flussabwärts getragen.«
»Nun, ich glaube, das ist dennoch eine gute Nachricht. Du solltest es ihr erzählen.«
Etwas in seiner Stimme warnte Thymara, dass noch Schlimmeres kommen würde. Sie hielt den Atem an, doch Alise fragte sogleich: »Was ist mit Teermann und Kapitän Leftrin?«
»Kurz nachdem die Welle uns getroffen hat, haben einige von uns den Kahn gesehen. Das Wasser ist über ihn drüber geschwappt, aber er ist wieder aufgetaucht, und das weiße Wasser ist durch die Speigatts abgeflossen. Als wir ihn zuletzt gesehen haben, war er nicht gekentert und schwamm, aber mehr wissen wir nicht. Von der Mannschaft oder von den Jägern haben wir niemanden gesehen, deshalb hoffen wir, dass sie an Bord waren und es dort überstanden haben.«
»Wenn, dann werden sie nach uns suchen. Kapitän Leftrin wird uns finden.« Sie sprach mit so fester Überzeugung, dass Thymara beinahe Mitleid mit ihr hatte. Sollte er nicht kommen, dann wäre es für Alise umso schwieriger, zu akzeptieren, dass sie sich selbst retten musste.
Sie sah Tats geradewegs an. »Und sonst?«
»Der Silberdrache ist nicht hier. Und auch Relpda fehlt, die kleine Kupferkönigin.«
Thymara seufzte. »Ich habe mich schon gefragt, ob sie es überleben würden. Sie waren beide nicht besonders schlau, und die Kupferne war stets kränklich. Vielleicht war es sogar gnädig, dass sie so schnell gegangen sind.« Sie sah Tats an, weil sie wissen wollte, ob er ihr recht gab. Aber er schien ihr gar nicht zugehört zu haben. »Wer denn noch?«, fragte sie tonlos.
Auf ihre Frage folgte ein Moment des Schweigens, als müsse die Welt sich auf die Trauer vorbereiten.
Weitere Kostenlose Bücher