Raine der Wagemutige
packte einen schweren Kerzenhalter und ließ ihn auf den Schrankdeckel niedersausen. Eine geschlagene Minute standen sie einfach nur da. Langsam streckte Raine die Hand aus, griff hinein und holte ein großes, zugedecktes Tablett aus dem zerstörten Schränkchen. Er zog den Stoff weg und enthüllte verblasstes lila Samtfutter und . . . sonst nichts. Favor kniete sich neben die zersplitterten Überreste, legte größere Holzstückchen beiseite und durchsuchte die wenigen Schübe, die den zerstörerischen Schlag heil überstanden hatten, nach einer Spur des Schatzes. Raine schob die letzten Stückchen mit seiner Stiefelspitze umher, drehte sie um. Da war kein Platz, an dem sich auch nur ein Ring verbergen konnte, geschweige denn ein ganzer Schatz aus schwerem Goldschmuck und Edelsteinen.
„Ich ... Es tut mir Leid“, hörte er Favor flüstern.
Eine Woge der Trostlosigkeit erfasste ihn. Jetzt war ihm nichts mehr geblieben. Keine Luftschlösser mehr. Keine ehrenhaften Absichten.
Er starrte gedankenverloren vor sich hin. Er sollte gehen. Die Chancen, jetzt noch den McClairen-Schatz irgendwo in den Dutzenden von Räumen hier, alle voller möglicher Verstecke, zu finden waren unendlich gering - einmal vorausgesetzt, dass es ihn überhaupt gab. Aber das war gar nicht der wahre Grund dafür, warum er fliehen wollte. Wie konnte er bleiben, während sie sich irgendeinen Bastard als Ehemann aussuchte?
„Ich vermute, wir werden einfach weitersuchen müssen“, bemerkte Favor mit leiser, rauer Stimme.
Er blickte auf, las ihren Gesichtsausdruck und begriff. Soweit es Favor betraf, hatten sie den Ort gefunden, wo sie zusammen sein konnten, fernab von Schuld und Pflicht. Und sie hatte auch die Entschuldigung gefunden, die sie brauchte, um mit ihm zusammen sein zu können: die Suche nach dem Schatz.
Zwar lächelte sie nicht gerade, doch schuldbewusste Freude erhellte ihre Züge wie ein Strahl Sonnenlicht.
Er hatte nicht die geringste Chance.
„Ja“, sagte er leise.
24. KAPITEL
Tunbridge kam durch die Tür in die Bibliothek gestürmt. „Carr! Großartige Neuigkeiten! Endlich!“
Carr, der gerade damit beschäftigt war, einen Stapel Schuldscheine, Urkunden, Verfügungen und Briefe durchzugehen, blickte abrupt auf. „Seid doch so gut und schließt die Tür, Tunbridge“, bemerkte er und begann die Papiere zusammenzuschieben.
Er hatte nach einem besonders belastenden Liebesbrief gesucht, aber das konnte jetzt warten. Es war viel wichtiger, dass er sich kein auffälliges Interesse an dem Packen Papiere auf seinem Schreibtisch anmerken ließ. Er durfte Tunbridge nicht wissen lassen, dass dies der Grundstein war, auf dem er, Carr, seine ganze Zukunft, seine Macht und sein Ansehen zu errichten hoffte.
„Nun“, sagte er, riss ein Stück Bindfaden ab und band die Papiere zu zwei Bündeln zusammen. „Was habt Ihr für wundersame Neuigkeiten?“
„Der König ist gestorben. George ist tot!“ verkündete Tunbridge. Er stützte sich mit seinen Händen flach auf dem Schreibtisch ab und beugte sich vor. „Hört Ihr mich, Carr? George II. ist am 25. Oktober gestorben. Jetzt ist sein Enkel König. “
„Enkel?“ wiederholte Carr ungläubig. Endlich, nach all den Jahren . . .
„Ja.“ Tunbridge nickte bekräftigend. „Und wie alle Mitglieder des Hauses Hannover ihre Thronfolger hassen, hasste George seinen Enkel, und der Enkel erwiderte seine Gefühle. Der neue König ist jung, Carr, formbar und eifrig. “ „Er wird den Beschluss seines Großvaters bezüglich meiner Verbannung rückgängig machen?“ fragte Carr, darauf bedacht, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen.
„Er wird noch nicht einmal davon wissen.“
Carr sprang auf und brachte sein Gesicht dicht vor
Tunbridges. „Seid vorsichtig, Sir. Hierin will ich nicht enttäuscht werden.“
„Ich bin mir ganz sicher!“ erklärte Tunbridge. „George hat so viele der letzten Jahre im Ausland zugebracht, dass er den Jungen kaum kannte. Der junge König wird kaum Zeit haben, die persönlichen Feindschaften seines Großvaters weiterzuführen, das versichere ich Euch.“
„Wo und von wem habt Ihr diese Neuigkeiten gehört?“ „Von Lord Edgar - es ist keine Stunde her. Ich verließ gerade die Burg, als er eintraf. Er kam geradewegs aus St. James hierher.“
„Wo befindet er sich jetzt?“
„In seinen Räumen. Ich vermute, dass er schläft. Schließlich war er erschöpft. Er ist die Nacht durchgeritten.“ Langsam richtete sich Carr auf. „Ich verstehe.“
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