Raine der Wagemutige
Lachen nicht unterdrücken und erhaschte aus dem Augenwinkel das befriedigte Aufblitzen in ihrem Blick. Er wollte verdammt sein, wenn sie diese treuherzige Bemerkung nicht absichtlich gemacht hatte, nur um ihn zu entwaffnen. Sie war gerissener, als er vermutet hatte - ein würdiger Gegner.
„Jetzt weiß ich, dass Ihr kein weises Herz besitzt“, entgegnete er. „Das mag ein unglücklicher Umstand für Euch sein, hat allerdings wenig mit mir zu tun. Und nun entschuldigt bitte meine Gefühllosigkeit.“
Sie bedachte ihn mit einem scharfen, abwägenden Blick. Sehr gut.
„Fahrt fort“, forderte er sie auf.
„Mein Ehemann. . . er war ein Diplomat“; gehorchte sie.
„Ganz offensichtlich kein besonders guter“, bemerkte Raine. Dieses Mal wurde der Blick von einem Stirnrunzeln begleitet. „Bitte, berichtigt mich, wenn ich mich irren sollte, aber England und Frankreich sind doch immer noch Feinde, oder etwa nicht?“
Hinter ihr verlagerte Jacques unbehaglich sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
„Oui, Monsieur.“ Ihre Stimme klang gepresst, und ihre Augen glänzten hell. Vor Wut oder Schmerz? Er konnte es nicht sagen. „Dennoch werde ich es nicht zulassen, dass Ihr schlecht über ihn sprecht. Vielleicht, wenn wir uns nicht ineinander verliebt hätten, hätte seine Aufmerksamkeit weiterhin ungeteilt der Politik gegolten . . .“
„Meine liebe Dame, eine so wahrhaft bewunderungswürdige Bereitschaft, derart allumfassend die Schuld auf sich zu nehmen, spricht Bände über die frommen Schwestern, in deren Obhut Ihr aufgewachsen seid. “ Diese Bemerkung brachte ihm einen erstaunten Blick von dem Mädchen ein. Er hatte Recht gehabt; sie war in einem Kloster erzogen worden. „Aber sogar Nonnen würden sich scheuen, den liebestrunkenen Träumereien eines untergeordneten Diplomaten die Schuld an einem Krieg zu geben.“
Das Stirnrunzeln verstärkte sich, und Raine musste das unangebrachte Verlangen, laut aufzulachen, unterdrücken. Gleichgültig, welch angenehme Abwechslung dieses Wortgefecht bot, sein Leben befand sich immer noch in der Waagschale. Und wenn sein Augenlicht nicht unter der Kerkerhaft stärker gelitten hatte, als er annahm, war der hünenhafte Jacques unauffällig näher gekommen, während das Mädchen ihn selbst abgelenkt hatte. Raine schwang die Waffe herum und richtete sie auf den Riesen.
„Kommt schon, mon ami. Beweist die Geduld, die Eure Herrin mich beschuldigt, vermissen zu lassen. Steht still, Jacques, oder wählt den Tod!“
Sie schürzte ihre üppig geschwungenen Lippen. Kein Zweifel, sie war eindeutig verstimmt.
„Ich denke, ich habe jetzt genug über die Hintergründe erfahren. Was genau wollt Ihr von mir?“
Jacques nickte unfroh. Das Mädchen holte tief Luft. „Vor ungefähr einem halben Jahr hat meinen Mann die Nachricht ereilt, dass sein Onkel in Schottland gestorben ist und ihm einen großen Besitz hinterlassen hat. Mein Gatte
machte sich sofort daran, Vorkehrungen für mich und Klein Angus für eine Reise nach Schottland zu treffen.“
„Klein Angus?“
Sie schlug sittsam die Augen nieder. „Unser Sohn.“ Sohn. Raines Blick wanderte über ihre schlanke Gestalt hinab zu ihrer Taille. Die Kette, die sie um den Hals trug, würde sie mit Leichtigkeit umspannen können. Trotzdem war es möglich, dass ein Korsett für ihre zierliche Figur verantwortlich war.
„Wie Ihr Euch sicher vorstellen könnt, ist es eine alles andere als leichte Aufgabe, für eine französische Dame und ihren kleinen Sohn eine Passage nach Schottland zu finden. Besonders, wenn es sich bei der französischen Dame um einen Abkömmling einer bedeutenden Familie handelt, wenn auch einer Familie, die nicht mehr viele Mitglieder zählt. Ich bin eine Waise, Monsieur, im Haushalt meiner Tante aufgewachsen, demselben Haushalt, in dem ich seit dem Tod meines Ehemannes gelebt habe.
Glücklicherweise gelang es meinem Gatten nach langem Suchen, mit einem Freibeuter Kontakt aufzunehmen und Vorkehrungen für unsere Reise zu treffen. Wir hatten vor
- wir haben vor - heute Nacht auszulaufen.“
„Und warum“, erkundigte sich Raine argwöhnisch, „seid Ihr dann stattdessen hier mit mir und gebt Euch als berüchtigte Metze aus, anstatt mit Klein Angus Dieppes Hafenanlagen zu durchstreifen? Nicht ein Wort, Jacques“, warnte er den anderen Mann.
„Weil“, entgegnete das Mädchen in plötzlich aufflackerndem Zorn, „mein Ehemann vor ein paar Monaten gestorben ist und der Mann, mit dem wir uns an den
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