Raine der Wagemutige
schnaubte auf eine völlig undamenhafte Art und Weise. „Wohl kaum.“ Die Worte platzten aus ihr heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte, und verrieten viel zu viel.
Er hob eine dunkle Braue und musterte sie aus karamellfarbenen Augen. „Gut.“
„Warum das?“ erkundigte sie sich.
„Weil“, erwiderte er, „ich beschlossen habe, dass die Versorgung mit Essen und Kleidung - wobei ich von Letzterem noch nichts zu Gesicht bekommen habe - als Wiedergutmachung zu wenig sind. Besonders von jemandem, der fest damit rechnete, das Opfer von Zudringlichkeiten zu werden. “
Ihr Herzschlag setzte aus, dann begann er zu rasen. Ihr Mund wurde ganz trocken.
„Was wollt Ihr?“ flüsterte sie.
„Das werdet Ihr schon sehen“, sagte er, während sein sinnlicher Blick über ihr Gesicht und ihre Figur wanderte. „Aber zuerst werdet Ihr Euer Kleid ablegen müssen.“
15. KAPITEL
Ihr Hals und ihre bloßen Arme waren von einem Schweißfilm überzogen. Die feinen, kurzen Härchen an ihren Schläfen kräuselten sich in feuchten Strähnen und klebten ihr wie kleine schwarze Kommata im Nacken. Sie leckte sich über die Lippen und schmeckte Salz. Die Arme waren ihr schwer geworden und fühlten sich seltsam geschwächt an. Muskeln, von denen sie nicht geahnt hatte, dass sie sie besaß, schmerzten von der übermäßigen Anstrengung.
Favor schaute in den Spiegel und erkannte die herrlich unordentlich und entspannt aussehende junge Frau, die ihr daraus entgegenblickte, kaum wieder. Ihre Schminke war verschwunden, und ihre Haut glühte förmlich.
„Oh“, flüsterte sie schuldbewusst, „das hat Spaß gemacht!“
„Was habt Ihr gesagt?“
Sie wandte sich von dem Spiegel ab und schenkte Rafe ein unschuldiges Lächeln. Er hatte seine Arbeit unterbrochen - das Durchwühlen einer großen Kiste, die er auf einen halbhohen Bücherschrank gestellt hatte. „Nichts.“
Nie würde sie zugeben, dass ihm bei der Suche nach dem McClairen-Schatz zu helfen eher eine Belohnung als eine Strafe war. Sie hatte ihr wunderschönes Kleid abgelegt und den alten Kittel übergestreift, den er aus einer alten Truhe hervorgekramt hatte, während sie ihre Erleichterung zu verbergen suchte. Sie hatte viel zu viele Stunden vor zu vielen Spiegeln verbracht, mit dem Ziel, zu Janet McClairen zu werden. Die Erleichterung, aus dieser Rolle schlüpfen zu dürfen, hatte sie fast schwindelig gemacht.
Es war herrlich gewesen. Sie hatte in Kommoden und Schränkchen, in Kisten und Truhen, in Schubladen und Koffern gestöbert und gewühlt, hatte unter Betten, zwischen Stoffballen und altem Leinen nachgesehen. Sie hatte weder den Schatz noch das reich verzierte Schränkchen
gefunden, in dem er sich angeblich noch befinden sollte -auch wenn sie diesen Teil der Geschichte nie zuvor gehört hatte.
Sie hatte dafür andere Sachen gefunden, geheimnisvollen Krimskrams und kleine Andenken: die überschwänglichen Aufzeichnungen eines Kindes über seine Erlebnisse, die vor hundert Jahren niedergeschrieben worden waren; einen zerbrochenen Krummsäbel, der sorgfältig in ein verblichenes maurisches Banner gewickelt worden war; der Kristallflakon einer Frau, dem immer noch ein schwacher Rosenduft entströmte. Sie alle nahmen sie mit ihren unbekannten Geschichten gefangen. Geschichten der McClairen.
Ihrer Geschichte.
Nur an wenige Erzählungen ihrer Mutter konnte sie sich entsinnen und an keine ihres Vaters. Sie konnte sich ja kaum noch an ihn erinnern. Er war kurz nach dem Massaker aus London zurückgekehrt, nachdem seinen Bitten um Gnade kein Gehör geschenkt worden und das Schicksal ihrer Brüder besiegelt war. Er war heimgekehrt und mit der Nachricht empfangen worden, dass seine Frau gestorben und seine Leute niedergemetzelt worden waren. Innerhalb eines Jahres war auch er gestorben.
Muira hatte ihr über ihre Vorfahren geschrieben; lange Namenslisten und trockene Beschreibungen von gewonnenen Schlachten und eroberten Ländereien. Aber diese Sachen hier - Favor fuhr sachte über den Perlenring eines Kindes - erzählten viel persönlichere Geschichten. Zum ersten Mal waren ihre Vorfahren für sie zu Menschen geworden, die wirklich gelebt hatten.
Welche liebende Mutter hatte die Lederschleuder so sorgfältig in dieser Schublade verstaut? War jemand diesen Säbel schwingend gestorben oder war er symbolisch zerbrochen worden? Dieser Flakon mochte einer Urgroßtante gehört haben und jenes Tagebuch vielleicht sogar ihrem Großvater.
Rafe hatte gegen ihr Herumtrödeln
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