Raine der Wagemutige
keine Einwände erhoben - sogar dann nicht, als sie einen Stapel arg mitgenommener Spielkarten auf dem Boden ausgebreitet und sortiert hatte, bis sie merkte, dass der Herzbube fehlte. Er hatte geschwiegen und war der Reihe nach jedes Möbelstück und jede Truhe, die an der Wand standen, durchgegangen.
Nur gelegentlich, wenn sie etwas Besonderes entdeckt und unwillkürlich einen erfreuten Ausruf ausgestoßen hatte, hatte sie beim Aufblicken bemerkt, dass er sie mit unergründlicher Miene beobachtete. Sie konnte aus ihm einfach nicht schlau werden. In den vergangenen paar Stunden schien er nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher junger Mann zu sein, der sich voll Begeisterung in eine Aufgabe stürzte. Es war beinahe, als hätten sie beide in diesem Raum einen Teil der unschuldigen Vergnügungen der Kindheit gefunden, die ihnen im wahren Leben versagt geblieben waren.
„Das ist das letzte Stück hier, in dem ein zwei Fuß hohes Schränkchen Platz finden könnte“, sagte sie und klopfte auf den Deckel einer Reisetruhe. Das war gut so. In ungefähr einer Stunde würde die Sonne untergehen. Wenn sie einer unangenehmen Befragung durch Muira entgehen wollte, dann musste sie zu dem Zeitpunkt, an dem die alte Frau an die Tür klopfte, fertig angekleidet in ihrem Zimmer sein.
Rafe antwortete nicht, und so hob sie den schweren Deckel. Zuoberst lag ein sorgfältig zusammengelegtes kupfer- und pflaumenfarbenes Kleidungsstück, mit Metallfäden bestickt und reich besetzt mit bunten Steinen, die wie die Schuppen eines fremdartigen Fisches unter lang verdorrten Lavendelzweigen glitzerten.
„Was ist das?“ fragte Rafe und spähte ihr über die Schulter.
„Ich weiß nicht“, antwortete sie und hielt ihr Gesicht abgewandt. Er roch nach Staub und Hitze und Männerarbeit, ein kraftvoller Geruch, einzigartig und erdig. Sie traute sich nicht, sich umzudrehen. Er trug sein Hemd immer noch offen.
„Himmel, schließlich kommt es doch noch ans Licht! Einer dieser Highland-Heiden war tatsächlich ein Dandy.“ Sein Lachen kitzelte sie hinter dem Ohr.
„Was ist das?“ fragte sie und berührte den schimmernden Stoff vorsichtig.
„Der Rock eines Gentleman im persischen Stil, glaube ich. Am französischen Hof war das einmal der Gipfel der Mode.“
„Es ist fantastisch!“ rief sie aus, nahm das Kleidungsstück, schüttelte es aus und hielt es an den Schulter-nähten in die Höhe. „Wozu werden diese Schlaufen wohl gut gewesen sein, was meint Ihr?“ Sie blickte über ihre Schulter.
Er stand sehr dicht hinter ihr. Ein langer Schmutzstreifen zog sich über seine Brust wie ein Brandmal. Die Anstrengung der Arbeit hatte seine dunkle Haut mit seidig schimmernder Feuchtigkeit überzogen, die jede Linie und Fläche in den schräg einfallenden Strahlen der späten Nachmittagssonne hervorhob. Eine weiße Narbe auf seinem Bauch verschwand unter dem Bund seiner Hosen, die ihm tief auf den Hüften saßen.
„Als Zierde.“ Er griff über ihre Schulter und schnippte gegen einen der glitzernden Schmucksteine. „Verflucht, bloß Glas.“
„Oh, und Ihr seid wohl ein Experte auf dem Gebiet der Edelsteine, ja?“ fragte sie trocken.
Er grinste breit, so dass seine Grübchen erschienen, und sein Seitenblick war ihr bei weitem zu wissend. „Ihr wäret überrascht, in welchen Bereichen ich mich bestens auskenne.“
Das bezweifelte sie eher.
Sie schaute fort, nicht willens zuzulassen, dass er ihren Blick auffing. Denn das war an diesem Nachmittag schon viel zu oft geschehen. Es war beinahe, als ertränke man in einem Teich aus warmem Honig.
Sie unterdrückte diese gefährliche Vorstellung. Je mehr Zeit sie in seiner Gesellschaft verbrachte, desto leichter kamen ihr solche Gedanken. Das würde nicht gut gehen. Sie waren . . . nun, wenn auch nicht verschworene Feinde, so doch auch nicht gerade Freunde. Schließlich war sie gezwungenermaßen hier, und nicht weil sie es wollte. Selbst wenn es ihr Spaß machte, hier zu sein, so konnte er das nicht wissen.
Langsam, verdammt - sie neigte den Kopf und murmelte rasch ein mea culpa für ihr Fluchen - verwirrte er sie.
„Was tut Ihr da?“ erkundigte er sich verwundert.
„Ich denke nach.“
„Worüber?“
„Wie . . . wie perfekt das hier für den Maskenball wäre.“
„Was für ein Maskenball?“
„Freitagabend in einer Woche“, antwortete sie, froh darüber, ihren unangenehmen Gedanken entkommen zu sein. Sie spähte in die Truhe. Dort lagen noch mehr Kleidungsstücke. Lederne
Weitere Kostenlose Bücher