Raketenmänner (German Edition)
sitzen und dachte daran, wie sein Vater früher gewesen war. Ein Kind. Ein Teil seines Vaters war nie richtig erwachsen geworden. Ohne unsere strenge, gut organisierte Mutter wäre unser Leben ein Chaos gewesen, dachte Wenzel.
Plötzlich stand Schwester Bärbel in der Tür und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei.
»Er schläft«, sagte Wenzel. Und, nach einer Pause: »Hat er Ihnen je von meiner Mutter erzählt?«
»Nicht nur einmal.«
»Ohne sie wären wir verloren gewesen.«
»Das hat er auch gesagt.«
»Mein Vater ist wohl in seinem Leben zu keiner Verabredung, zu keinem Termin pünktlich gekommen. Er war in Gedanken immer woanders, immer unterwegs.«
»Nur bei der Arbeit war er immer pünktlich.«
»Weil er vor allem da immer woanders sein konnte.«
»Ich war früher auch oft in seinem Kino.«
Wenzel nickte. Ein paar Sekunden sagten sie nichts. Schließlich stand Wenzel auf und bat Schwester Bärbel, bei seinem Vater zu bleiben. Sie nickte und berührte ihn kurz am Arm. Eigentlich hatte er in der Küche einen Kaffee trinken wollen, aber auf der Treppe entschied er sich anders und ging hinunter in den Keller, wo es etwas muffig roch. Sein Vater war seit Wochen nicht hier unten gewesen.
Im Vorraum hing ein alter Spielautomat, der noch funktionierte, aber ausgeschaltet war. Sein Vater hatte irgendwo einen Vorrat alter Zehn-Pfennig-Stücke, mit denen man das Ding füttern konnte. An der Wand gegenüber prangte ein gerahmtes Plakat von Höllenfahrt nach Santa Fe . Mit fünfzehn oder sechzehn hatte Wenzel mit seinem Vater darüber gestritten, wie hirnrissig der Titel sei. Im Original hieß der Film Stagecoach , also Postkutsche , und die Fahrt ging nicht nach Santa Fe, sondern nach Lordsburg. Außerdem hieß der Film ab 1963 in Deutschland Ringo . Da hatte sich Wenzel extra schlaugemacht, um dem Vater einen Fehler nachzuweisen. Sein Vater hatte nur gesagt: »Aber es ist ein schöner Film!« Und Ringo sei als Titel so langweilig wie der gleichnamige Beatle, worauf Wenzel geantwortet hatte, sein Vater habe eben auch von Musik keine Ahnung, und überhaupt müsse man im Leben schon genau sein, gerade bei Meisterwerken. Bald darauf wurde er erwachsen und fand sich selbst in der Rückschau unerträglich altklug und das Höllenfahrt -Plakat hinreißend.
Am Ende des Ganges stand ein faltbarer Kleiderschrank aus Kunststoff, mit aufgedrucktem Blumenmuster. Wenzel öffnete den Reißverschluss und ging die Sachen seines Vaters durch: die reich paspelierten Hemden, die braune Lederweste mit den Fransen-Conchas und den hellen Ziernähten, die rot-schwarz ornamentierte Weste, die hinten einfach schwarz war und eine Schnalle zum Verstellen der Weite hatte, die braunen, Chaps genannten, Staubfänger für die Hosen, damit man tagsüber auf der Weide mit den Rindern arbeiten und abends trotzdem zum Square-Dance in den Saloon gehen konnte, der Gehrock, der Staub- und der Kutschermantel (mit Stulpen über der Schulter), der dunkelrote Longjohn. Daneben hingen die Sachen von Wenzels Mutter, etwas weniger reichlich: nur eine schwarze Korsage mit rotem Schößchen und eine schwarze Bluse mit weißer Zierstickerei und Perlmuttknöpfen. Auf dem Boden des Faltschrankes Vaters Schlangenlederstiefel und Mutters Schnürstiefeletten. Und die Hutschachtel, in dem der Vater seinen ganzen Stolz aufbewahrte: den schwarzen Stetson. Wenzel setzte ihn auf und stellte fest, dass er passte.
Er öffnete die Tür zur Kellerbar. Hier hatte sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Hinter dem Tresen standen in einem Regal staubige Whiskyflaschen. An den Wänden klebten Holz-Imitat-Tapeten. In der Ecke hing die Ehrenurkunde für fünfundzwanzig Jahre Mitgliedschaft bei den Westernfreunden Westdeutschland . Vor dem Tresen standen vier Hocker mit Sätteln drauf, so wie der Vater es vor Ewigkeiten in einer Hamburger Kneipe gesehen hatte. Einer der Hocker war kleiner als die anderen. Das war Wenzels Hocker, sein Platz, von dem aus er das Treiben der Cowboys und Saloonfrauen hatte beobachten können. Hier hatte er gesessen, mit seiner Kunststoffweste und seinem Spielzeugrevolver und den Plastiksporen an den Turnschuhen, wenn die Männer Whisky aus kleinen Gläsern tranken und ihre Colts um den Zeigefinger wirbeln ließen, die Frauen ihre Röcke rafften und in dem engen Raum zu tanzen versuchten. Sie alle hatten so aussehen wollen wie die Cowboys und die Frauen in den Filmen, die Wenzels Vater im Kino in der Innenstadt vorführte, aber als er älter
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