Raketenmänner (German Edition)
wurde, war Wenzel aufgefallen, dass sie hier unten alle etwas dicker, etwas müder und etwas weniger wagemutig aussahen als ihre Vorbilder auf der großen Leinwand.
Seine halbe Kindheit hatte er in dem alten Kino verbracht. Nicht wenige Stunden in dem erstaunlich niedrigen Vorführraum, wo der Vater die Filmrollen in die beiden Projektoren legte und auf den Moment wartete, in dem überblendet werden musste, da die Filme in einzelnen Akten geliefert wurden. Wenzel und sein Vater blickten durch die Projektionslöcher und warteten auf die Überblendzeichen im Film. Erschien das erste Zeichen, musste Wenzel den Motor des zweiten Projektors starten. Beim zweiten Zeichen hatte der Vater noch eine Sekunde Zeit, die Lichtklappe mit der Tonumschaltung zu öffnen. Wenn alles glattging, bekamen die Zuschauer gar nicht mit, dass auf einen anderen Projektor umgeschaltet worden war. Und Wenzel konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Vater und er jemals einen Fehler gemacht hätten. Sie waren Männer, die Männerarbeit verrichteten, und das machten sie verdammt gut.
Manchmal nahm er Freunde mit ins Kino. Sie sahen sich Western an, immer wieder Western. Der Vater zeigte auch andere Filme, aber für die interessierte sich Wenzel als Kind nicht. Das war etwas für seine Schwester und ihre Freundinnen. Ein Mann, ein Pferd, ein Colt, das war Wenzels Welt.
Für die technischen Aspekte wiederum interessierte sich seine Schwester nicht. Anfangs hatte sie es noch spannend gefunden, den Vater bei der Arbeit zu beobachten und den anderen Mädchen den Vorführraum zu zeigen, später aber hatte sie sich »lieber auf die Filme konzentrieren« wollen. Als sie schon erwachsen war, hatte sie mal gesagt, am liebsten hätte sie völlig vergessen, dass hinter einem Film Technik steckte und der Streifen auch beliebig oft wiederholt werden konnte. Für sie hatte das alles genau in diesen anderthalb Stunden stattgefunden, in denen es ihr so wahr wie möglich erschien.
Die nächsten zwei Stunden saß er am Bett seines Vaters und sah ihm beim Schlafen zu. Sein Vater würde nie wieder eine Herde von hier nach da treiben. Zwischendurch wachte der ganz alte Wenzel immer wieder kurz auf, fragte nach seiner Frau oder hielt seinen Sohn mal für seinen Bruder, mal für den Enkel.
Als der Abend anbrach, machte Wenzel sich auf den Weg nach Hause. Er ging durch die Fußgängerzone, wo er an dem Kinocenter vorbeikam, in dem er in der letzten Woche einen Film mit Tom Hanks gesehen und sich zu Tode gelangweilt hatte. Er konnte sich Tom Hanks nicht auf einem Pferd vorstellen, und ein Schauspieler, den man sich nicht auf einem Pferd vorstellen konnte, war kein richtiger Schauspieler.
Wenzel war schon an dem Kino vorbei, kehrte aber doch noch einmal um und ging zu der Frau, die in einem dunklen Polohemd, auf das der Name der Kinokette gestickt war, an der Kasse hinter einer dicken Glasscheibe saß, sodass Wenzel in ein Mikrofon sprechen musste. Sie schien sich mindestens so zu langweilen wie Wenzel letzte Woche in dem Film mit Tom Hanks.
»Guten Abend«, sagte Wenzel.
»Hallo«, antwortete die Frau und versuchte erfolglos zu lächeln.
»Ich habe da mal eine Frage.«
»Ja?«
»Wann zeigen Sie mal wieder einen Western?«
»Einen Western?«
»Männer, Pferde, Schießeisen.«
» Django unchained läuft nicht mehr.«
»Ich meine einen richtigen Western. Einen, in dem die Männer nicht bluten, wenn sie getroffen werden, und die Indianer die Beine anheben, um ordentlich aus dem Sattel fallen zu können.«
Die Frau runzelte die Stirn.
»Cinemascope«, fuhr Wenzel vor, »Breitwand mit Überblendzeichen, auf fünf Spulen verteilt.«
»Wir zeigen auch 3D. Eine Brille können Sie sich leihen.«
»Kennen Sie Höllenfahrt nach Santa Fe ?«
Die Frau legte ihre Hand auf das Telefon, das neben ihr stand.
»Hat sich erledigt«, sagte Wenzel.
Er ging zurück zum Haus seines Vaters. Inzwischen hatte die Nachtschwester ihren Dienst angetreten. Er grüßte sie nur kurz, ging an ihr vorbei und hinunter in den Keller. Er nahm den Stetson seines Vaters aus der Hutschachtel und setzte ihn auf. In der Kellerbar stieg er auf diesen mittlerweile viel zu kleinen Hocker und fragte sich, wie weit es bis Santa Fe sein mochte. Er stemmte sich in den Steigbügeln hoch, richtete sich im Sattel auf und ließ seinen Blick über die endlosen Weiten der Prärie schweifen.
C 90
Sabolewski war kurz davor, sich zu übergeben.
»Sie haben Glück«, sagte sein Gegenüber, »bei uns kommt
Weitere Kostenlose Bücher