Raketenmänner (German Edition)
spürte, wie sich ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen ausbreitete.
Ein Pärchen kam herein, beide vielleicht fünfzehn Jahre alt. Sie hielten sich an den Händen und flüsterten sich irgendetwas zu.
» CD s sind im Keller«, sagte der junge Wenzel.
»Ah ja«, gab das Mädchen zurück und zog ihren Freund zu der Treppe, die links neben dem Kassentresen nach unten führte.
»Die kaufen doch keine CD s!«, sagte Wenzel.
»Nein«, antwortete sein Sohn, »die knutschen auf dem Sofa ein bisschen herum. Die kommen fast jeden Tag.«
Paare, die sich einen geheimen Ort zum Knutschen suchen. Wenzel hatte den Eindruck, er stürze zurück in die Fünfziger.
»Und?«, fragte Wenzel. »Läuft der Laden?«
»Es geht.«
Wenzel beneidete seinen Sohn. Der konnte hier sitzen und darauf warten, dass die Zukunft anfing, und das in einer Umgebung, die aussah wie die Jugend seines Vaters. Dem Sohn fiel es in den Schoß, und er selbst musste zu Fuß gehen. Sein Sohn hatte noch nie etwas allein auf die Beine gestellt, durfte aber seinen Traum leben, mit dem Geld des Großvaters. Und in der Mitte er, Wenzel, der sehen konnte, wo er blieb. Schuldlos in Not geraten, und die ganze Familie pleite. Sah er seinem Sohn in die Augen, erkannte er, dass der sich reich fühlte, aber der sollte erst mal versuchen, mit seinen Augen die Miete zu bezahlen. Wenzel wusste, er sollte sich für seinen Sohn freuen, aber es gelang ihm nicht.
»Ich muss los«, sagte er
»Mach’s gut!«
Während Wenzel zur Tür ging, fühlte er den Blick seines Sohnes im Rücken. Aus dem Keller meinte er das Kichern der Knutschenden zu hören.
»Papa!«
Wenzel, der den Türgriff schon in der Hand hatte, drehte sich noch einmal um. »Ja?«
»Schön, dass du da warst!«
»Ja«, sagte Wenzel. »Viel Glück.«
Auf der Straße wusste er ein paar Sekunden nicht, wohin er jetzt musste, durfte, konnte. Dann fiel ihm ein, dass er auf dem Weg zu seinem Vater war. Der seine Ersparnisse dem Enkel geschenkt hatte, damit der einen Plattenladen aufmachen konnte, in dem Teenager sich zum Küssen trafen.
Als Wenzel in die Straße einbog, in der er aufgewachsen war, war er froh, dass er niemanden traf, der ihn von früher kannte.
Der Vorgarten seines Vaters war in den letzten Monaten ziemlich heruntergekommen. Wenzels Zorn ging in einem schlechten Gewissen auf. Er hatte Zeit genug und nahm sich vor, nächste Woche hier mal selbst Hand anzulegen.
Es dauerte einen Moment, bis Schwester Bärbel die Tür öffnete. Sie war eine freundliche, gewissenhafte Person Mitte fünfzig, die seinen Vater nicht nur versorgte, wusch und wendete. Sie saß auch an seinem Bett und redete mit ihm, wenn er wach war. Manchmal las sie ihm vor.
Schwester Bärbel sagte, heute habe sein Vater einen relativ guten Tag. Zwar dämmere er immer wieder weg und verliere die Orientierung, sei aber manchmal auch wieder überraschend klar, und man könne sich ausgezeichnet mit ihm unterhalten.
Wenzel ging nach oben in den ersten Stock, Schwester Bärbel setzte sich in die Küche. Die Tür zum Schlafzimmer seines Vaters stand offen, Wenzel sah das Fußende des Bettes. Als er das Zimmer betrat, knarrte der Boden, und sein Vater öffnete die Augen, schaute ihn an, lächelte und streckte die Hand aus. Wenzel ergriff die Hand seines Vaters und hielt sie fest, während er ihn fragte, wie es ihm gehe. Aus den Antworten des Vaters schloss Wenzel, dass es ihm besser ging als vor zwei Tagen. Da hatte er nur ohne Zusammenhang vor sich hin geredet und wissen wollen, wann Wenzels längst verstorbene Mutter denn endlich wieder nach oben komme.
Heute erkundigte er sich nach seinem Enkel.
»War er nicht heute Morgen noch hier?«, fragte Wenzel.
Der Blick seines Vaters wurde dunkel. »Mag sein.«
»Der Laden läuft«, sagte Wenzel, um seinen Vater aufzuheitern.
»Mir hat er was anderes erzählt«, sagte der Vater.
Nicht mal auf die Gedächtnisausfälle seines Vaters konnte man sich verlassen.
»Anfangsschwierigkeiten«, sagte Wenzel.
»Du glaubst doch, dass das alles Unsinn ist.«
»Soll ich dir einen Tee machen?«
»Das hat deine Mutter schon gemacht.«
Wenzel nickte.
»Ich wollte nicht«, sagte der Vater, »dass du sie in dieser Schwesterntracht siehst. Das ist was zwischen mir und deiner Mutter.«
»Die steht ihr gut.«
»Ich möchte nicht, dass du darüber redest. Ruf demnächst vorher an. Ich bin müde.«
Der Vater schloss die Augen und war kurz darauf eingeschlafen. Wenzel blieb noch ein paar Minuten
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