Raketenmänner (German Edition)
klein, die Wände zu dünn, die Nachbarn versoffen und gewalttätig, kurz: das Paradies. Heute dieser unangenehme Geschmack auf der Zunge, weil man mal wieder die ganze Nacht mit offenem Maul dagelegen hatte, als staunte man darüber, was aus einem werden konnte. Und Overbeck staunte offenbar nicht selten, jedenfalls nachts. »Sobald du auf dem Rücken liegst, steht dein Mund so offen, als würdest du erwarten, dass irgendwas Süßes hineinfällt«, hatte Brigitte mal gesagt. Dabei hatte sie gelacht, aber Overbeck war das peinlich gewesen.
Petra Schliefenbaum hatte nie gestaunt. Sie ließ staunen. Overbeck fragte sich, ob das immer noch so war. Heute Abend würde er mehr wissen.
Er mochte diese Wohnung hier. Sie war so ein Mittelding zwischen dem, was er mal gewesen war, und dem, was er bald werden sollte. Derzeit stand es in seinem Leben also unentschieden, aber Overbeck fand das nicht schlimm. Ein Punkt gegen einen übermächtigen Gegner war nicht schlecht.
Angefangen hatte alles mit einem Zimmer neben dem Wohnzimmer seiner Eltern: einschlafen zu den Klängen und Dialogen der Filme und Fernsehshows, die sie schauten. Ein paar Jahre später ein winziges Zimmer unterm Dach im Nebenhaus: brütende Hitze im Sommer, sibirische Kälte im Winter, aber gleich eine ganze Hauswand und zwei Stockwerke zwischen Mama und Papa. Am liebsten aber erinnerte er sich an die Wohnung, in die er gleich nach dem Abi eingezogen war und wo die ganze Sache mit Petra Schliefenbaum passiert war. Immer und immer wieder. Die Wohnung war klein und dunkel gewesen, das Bett schmal. Georgeous George von Edwyn Collins hatten sie rauf und runter gehört. Gevögelt hatte Petra Schliefenbaum am liebsten zu Disarm von den Smashing Pumpkins: The killer in me is the killer in you. Sie hatten nie verhütet, obwohl Petra klargemacht hatte, dass sie auf keinen Fall Kinder wollte. Niemals.
Und jetzt diese nette Wohnung in einem netten Stadtteil. Ein Arbeitszimmer für jeden, ein Wohnzimmer, eine Küche und ein geräumiges Bad.
Aber eben kein Kinderzimmer, deshalb suchten sie etwas Neues, denn sie waren bereit für den nächsten Schritt, wie Brigitte es ausdrückte. Overbeck wusste, sie hatte recht, und trotzdem fand er die Idee umzuziehen, nicht so richtig mitreißend.
Brigitte stand auf, um zu duschen, Overbeck machte das Frühstück. Nachdem er selbst geduscht und den ersten Kaffee getrunken hatte, fand er sein Leben wieder etwas besser. Draußen war ein schöner Tag, und Brigitte roch so gut wie sie aussah. Sie bekam ihr wildes Haar kaum gebändigt, sah aber trotzdem elegant aus. Wie sie das hinbekam, war ihr Geheimnis.
Natürlich schaffte sie es, doch wieder unter Zeitdruck zu kommen. Sie fand irgendein Manuskript nicht, das sie im Zug noch lesen wollte, suchte ewig nach ihrem Wohnungsschlüssel und nach ihrer Uhr. Bei der Suche regte sie sich lautstark auf und fluchte wie eine Hafennutte. Overbeck wusste, dass man sie in solchen Momenten am besten in Ruhe ließ.
Und dass er sie in diesen Momenten am meisten liebte.
Als sie alles gefunden hatte und er nach dem Frühstück an der Spüle stand, umarmte sie ihn von hinten und sagte, wie glücklich sie mit ihm sei. »Außerdem glaube ich, dass es diesmal wirklich geklappt hat.«
»Das wäre schön«, sagte Overbeck, weil das schon seit einiger Zeit die richtige Antwort war. Und wenn man die richtige Antwort kannte, musste man sie sagen. Er hoffte ehrlich, dass ihre Freude irgendwann auf ihn übergehen würde.
»Heute Nachmittag weiß ich mehr. Aber ich habe ein gutes Gefühl.«
Er würde nicht dabei sein können. Dieser wichtige Termin mit einem wichtigen Klienten. Baumermann persönlich hatte Overbeck gebeten, sich der Sache anzunehmen. Sein bester Mann solle das machen. Na gut, Overbeck war einfach der Einzige in der Kanzlei, der sich mit Familienrecht auskannte. Er war da so hineingerutscht. Eigentlich hatte er nie ein typischer Anwalt werden wollen. Er hatte für Menschen arbeiten wollen, die sich eigentlich keinen Anwalt leisten konnten oder die gar nicht erst auf die Idee kamen, sich einen zu nehmen, weil sie meinten, dass es ohnehin keinen Sinn habe. Seinen ersten Job hatte er bei Lubrich gehabt, der genau solche Fälle vertrat. Leute etwa, die sich gegen die Arbeitsagentur wehrten. Da war aber kein Geld zu holen gewesen, und dann hatte er Brigitte kennengelernt. Und als dieses Angebot von Baumermann kam, war alles ganz schnell und selbstverständlich abgelaufen.
»Wenn es geklappt hat«,
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