Raketenmänner (German Edition)
in den Innenhof und auf die erleuchteten Fenster. Die beste Sicht hatte er auf das Fenster direkt gegenüber. Riedel sah eine Frau, deren Alter er auf die Entfernung nicht einschätzen konnte, an einem runden Tisch in einer Küche sitzen und essen. Ihr gegenüber stand ein weiterer Teller, auf dem Herd ein Topf. Ein Mann kam herein und setzte sich an den Tisch. Sofort stand die Frau auf, nahm den leeren Teller, ging zum Herd und schöpfte mit einer Kelle etwas auf den Teller, den sie anschließend vor den Mann hinstellte. Sie nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank, öffnete sie und gab sie dem Mann, der gleich einen tiefen Schluck nahm. Die Frau setzte sich wieder und aß weiter. Riedel fühlte sich unwohl, wie er die beiden beobachtete, konnte den Blick aber auch nicht abwenden. Der sich langsam verdichtende Nebel umarmte schon den ganzen Häuserblock. Wenn das so weiterging, würde man bald gegenüber nichts mehr sehen.
Plötzlich stand Kobusch neben ihm, drückte ihm eine Flasche Bier in die Hand und machte sich am Plattenspieler zu schaffen. Riedel betrachtete ein paar Fotos, die über dem Fernseher mit Stecknadeln an die Wand gepinnt waren und deren Ecken sich schon nach vorne bogen. Hinter ihm glitt erst eine Innenhülle aus einem Pappcover, dann eine Vinylscheibe aus der Innenhülle. Es knackte, als die Nadel sich auf die Rille senkte. Die Platte war in einem ausgezeichneten Zustand, es knisterte gerade so viel, dass es Erinnerungen heraufbeschwor, den Hörgenuss aber nicht beeinträchtigte. Es folgte ein Gitarrengewitter, das nach etwa einer Minute in ein fast sakrales Orgelmotiv überging, um von einem Fünfziger-Jahre-Rock-’n’-Roll-Schlagzeugmotiv und Ian Gillans fiebrigem Gesang abgelöst zu werden: Speed King, Deep Purple in Rock .
Bevor Riedel eine Bemerkung dazu machen konnte, klingelte es. Kobusch ging zur Tür und drückte auf einen Knopf an der Gegensprechanlage.
»Er ist spät dran«, sagte er.
»War der jemals pünktlich?«, antwortete Riedel und stellte sich neben Kobusch an die Tür. Bald darauf hörten sie Garretsen viel zu laut redend die Treppe hochkommen.
»Der hängt schon wieder am Telefon«, sagte Riedel.
»Die schmeißen den heute Abend noch raus, glaub es mir!«, hörten sie Garretsen rufen. »Du kannst die Meldung schon mal schreiben, Dieter, wirklich. Ist mir egal, was der gestern noch gesagt hat, die haben sechs Spiele hintereinander verloren und fünf Punkte Rückstand auf einen Nichtabstiegsplatz. Die Spieler stehen auf dem Platz herum wie die Hütchen bei einer Verkehrsübung. Wenn der Siebel morgen früh noch Trainer ist, bezahle ich dir einen ganzen Abend in dem Brandenburger Swingerclub, in dem du jeden Mittwoch die Puppen tanzen lässt. Ist doch egal, woher ich das weiß. Und jetzt ist mal gut, für heute ist Feierabend.«
Garretsen war oben angekommen, steckte das Telefon in die Brusttasche seines Jeanshemdes, über dem er einen wollenen Wintermantel trug, grinste Kobusch und Riedel an und sagte: »Endlich normale Menschen! Kennt ihr den: Was sagt der Gynäkologe, wenn er abends nach Hause kommt? Endlich Gesichter! Hallo, ihr Knalltüten!«
Sie umarmten sich. Riedel hatte Garretsen seit Jahren nicht gesehen, fand es aber beruhigend, dass er sich nicht verändert hatte. Kobusch nahm Garretsen den Mantel ab, hängte ihn an die Garderobe, holte ein Bier für ihn, und sie gingen ins Wohnzimmer.
»Mann, Mann«, sagte Garretsen mit einem schnellen Rundblick, »Jugendzimmer revisited, was?« Er trank fast die halbe Flasche in einem Zug leer und machte gleich weiter: »Sagt mal, was ist mit dieser Stadt los? Die sieht ja wieder aus wie direkt nach dem Krieg! Ich meine, wir finden in Berlin auch immer noch Fliegerbomben, aber wir entschärfen die! Und ihr? Also kontrollierte Sprengungen sehen anders aus!«
»Das sind die Baustellen wegen der U-Bahn.«
Garretsen war entsetzt. »Was will dieses Kaff mit einer U-Bahn?«
»Das fragen sich viele.«
Garretsen schüttelte den Kopf und setzte sich breitbeinig auf das Sofa. »Die Welt ist aus den Fugen«, seufzte er.
Kobuschs Jungs standen plötzlich in der Tür und starrten Garretsen an.
»Ist er das?«, fragte der eine.
»Ich bin’s!«, antwortete Garretsen.
»Du kennst den Özil?«, wollte der andere wissen.
»Nicht nur den. Da fällt mir ein, ich habe euch was mitgebracht.«
Garretsen stand auf, ging in die Diele und zog eine Plastiktüte aus der Seitentasche seines Mantels. Darin fanden sich zwei grüne Trikots der
Weitere Kostenlose Bücher