Rampensau
den Rüssel fuhr, hinaus ins Freie.
Kim unterdrückte ein Gähnen, als sie auf die Wiese trat. Die Dämmerung war angebrochen. Kühl und feucht war die Luft. Es würde eine Freude sein, den Tau von ein paar Grashalmen zu schlecken. Vielleicht könnte sie mit einigen erfrischenden Tropfen den Schmerz in ihrem Kopf vertreiben.
Vögel sangen ihr erstes Lied, aber irgendwie klangen sie anders, leiser, verhaltener als am Morgen zuvor. Auch Bertie hatte sich nicht in Positur gestellt wie gestern, als er breitbeinig, mit hoch erhobenem Kopf die Sonne begrüßt hatte. Er lag mitten auf der Wiese, als würde er noch schlafen, ein dunkler Schemen im zarten frühen Licht. Vermutlich war das eine andere Übung – erst demütig den Rüssel in die Erde graben und ihn dann hochgereckt in den Wind halten, um das neue Licht des Tages zu empfangen.
He, wollte Kim ihm schon spöttisch zurufen, du verrenkst dir den Hals – kann nicht gesund sein, wie du daliegst, doch da entdeckte sie, dass Bertie gar nicht allein war. Eine menschliche Gestalt hatte sich neben ihm zusammengekauert und richtete sich nun auf. Sie hielt die Hände vor, als würde sie Bertie massieren. Hatte das Wollschwein alle viere von sich gestreckt, damit es sich wie ein Schoßhund kraulen ließ? Wenn Che das herausfand, wäre Bertie seines Lebens nicht mehr sicher.
Kim machte Anstalten, sich dezent zurückzuziehen, doch ihre Neugier ließ sie innehalten. Eifersucht durchzuckte sie. In all der Zeit hatte Dörthe sie nicht einmal so lang und ausgiebig gestreichelt, wie sie es nun augenscheinlich bei Bertie tat. Aber war diese Gestalt überhaupt Dörthe? Sie hatte lange, im ersten Licht blond schimmernde Haare, die ihr Gesicht bedeckten, wie Kim registrierte, während sie sich langsam näherte.
Dann fiel ihr Blick auf Bertie. Er hatte die Augen geschlossen. Keine Borste seines Zottelfells rührte sich. Die Zunge hing ihm bläulich aus dem Hals, er gab keinen Laut von sich.
Kim spürte, wie sich ihr Herzschlag unweigerlich beschleunigte. Eine Ahnung beschlich sie, warum Bertie nicht den leisesten Grunzer von sich gab. Er trug etwas um den Hals, eine Art Schild mit Buchstaben, und ein kleines silberfarbenes Gerät, wie Menschen es benutzten, um hineinzusprechen.
Vor Aufregung begann Kim zu hecheln und machte unter sich. Es platschte förmlich aus ihr heraus, aber sie achtete gar nicht darauf. Ihre Augen waren starr auf den reglosen Bertie gerichtet. Die Erkenntnis formte sich sehr langsam in ihrem Kopf und wurde von einem mächtigen Entsetzen begleitet.
Bertie konnte sich nicht mehr rühren, weil er tot war – er hatte einen genauso verrenkten Hals wie der schwarze Schwan.
Plötzlich lag ein langer, hallender Schrei in der Luft – ein Schrei, wie Kim ihn noch nie gehört hatte. Dass sie selbst diesen Schrei ausgestoßen hatte, begriff sie erst später, als die Gestalt, die neben Bertie hockte, sich voller Panik umwandte. Swara starrte sie entsetzt an. Sie hatte eine Waffe in der Hand, deren schwarzes Auge direkt auf Kim gerichtet war.
Gleich, dachte Kim, gleich wird aus diesem schwarzen Auge ein greller Blitz fahren und mich vernichten.
12
Der Blitz stach Kim in die Augen, aber er nahm ihr nur den Atem und tat nicht wirklich weh. Sie schluckte. Warum passierte nichts weiter? Kam das Ende so sanft – ein diffuses Licht, das sie einhüllte? Dann schwenkte der Blitz zur Seite und wurde zum einfachen Schein einer Taschenlampe, die über die Wiese glitt. Ihr Schrei hatte zwei weitere Gestalten angelockt. Mit nacktem Oberkörper und nur mit einer Trainingshose bekleidet stürmte Carlo über die Wiese, hinter ihm Dörthe in ihrem orangefarbenen Schlafanzug, die Taschenlampe in der Hand.
Kim trat einen Schritt zurück. Statt sich vor einem Blitz zu fürchten, der dann gar nicht kam, hätte sie besser alles genau beobachten sollen.
Was hatte Swara getan? Hatte sie Bertie getötet?
»He«, schrie Carlo aufgeregt. Auch er hatte eine schwarze Waffe in der Hand. »Was machen Sie da?« Im Laufen wandte er sich zu Dörthe um. »Unglaublich – sie hat dein Zottelschwein umgebracht!« Dann richtete er seine Pistole auf Swara. »Nehmen Sie die Hände hoch!«
»Machen Sie sich doch nicht lächerlich!« Swara lächelte ihn an, ohne eine Spur Angst im Gesicht. Wo war ihre Waffe? Sie zog ihre leere Hand aus der Hosentasche. »Wieso sollte ich Ihr nettes Schwein umbringen? Ich habe ein Geräusch gehört und bin aus meinem Zelt gekommen. Jemand ist über die Wiese
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