Ramses Mueller

eine Sektflasche, prall gefüllt, mit Magma, der Grund seines Besuchs hier, er sieht, dass ihn ihm hier jemand wegzieht. Und er spürt ein anderes Phänomen, dass ihn nämlich Stress und Druck kleiner zu machen scheinen, dass er innerlich verklumpt, alles zieht sich zusammen, Organe werden fest, auch die Knochen richten sich neu aus, stapeln sich wie Holzscheite, die Außenhülle spannt sich, er wird kleiner, das kennt man von der Gänsehaut, auch sie zieht sich zusammen, damit möglichst wenig Oberfl äche für die sie attackierende Kälte da ist. Aus Magma wird Schlacke, die Restfeuchtigkeit entweicht dem Enkel als Sodbrennen leise zischend durch die Nase. Was wird er mit der Ameisenrelation meinen, ist Schlingensief fähig, Menschen zu schrumpfen, offenbar, man kennt das von Autoritäten.
    – Ameisen werden scheinbar kleiner, je mehr wir wachsen, dem Kind ist sie, also die Ameise, wie eine Maus, und eine Maus wie ein Hund, und ein Hund wie ein Ochse.
    Ist er irre? Was redet der da, der Enkel, jetzt der Ochse, jetzt macht er den »Scheibenwischer«, das heißt, er winkt mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht hin und her.
    – Wir dürfen nie aus den Augen verlieren, von welcher Seite etwas betrachtet wird. Warum sind so viele mächtige Männer kleinwüchsig? Auch Stars, die Stones, Robbie Williams, Kylie Minogue.
    – Warum?
    – Warum? Weil sich zu produzieren der einzige Weg ist, sich zu behaupten. Leute, die nichts haben, sind laut. Warum schreit das Kind? Weil es wahrgenommen werden will, Zuwendung braucht, Gysi, Blüm, Napoleon, Schröder, Putin, Sarkozy, Brecht.
    – Brecht?
    – 1,54.
    – Echt? Also wirklich?
    – Ja, ist verbrieft.
    – Gab’s denn damals schon Größenaufzeichnungen?
    – Überhören wir das Witzchen jetzt mal lieber, ich denke, das ist auch in deinem Sinne. Du siehst mir nicht aus wie einer, dem daran gelegen ist, sich aufzuspielen, kein Stammtischjaruzelski.
    – Danke.
    – Einen Keks?
    – Darf man hier Kekse essen?
    – Ja, aber nur leise.
    – Okay, dann einen Keks.
    – Bitte?
    – Okay.
    – Bitte?
    – Ach so, ich soll darum bitten, also: Bitte! Schlingensief reicht ihm einen Leibniz-Butterkeks.
    – Deutsche Wertarbeit, total brüchig, voller Sollbruchstellen.
    Beide kauen bedächtig, speicheln die Keksbrocken gründlich ein, bevor sie sie zermalmen, eher zerdrücken mit der Zunge am Gaumen und dann in Richtung Kehle schieben, wo sie von der Peristaltik abgenommen und weiter durchgereicht werden, jeder versucht leiser zu essen als der andere, beide versuchen zum gedämpften Krach, der, je leiser er wird, paradoxerweise umso lauter wird, noch zusätzlich den Krach aus des anderen Mundhöhle wahrzunehmen, oder besser die Vermeidung des Krachs, man sieht sich beim Hören zu, Stuckrad denkt an seinen Auftrag hier, weswegen er hergekommen ist, das geht nun nicht mehr, die Schiffe ziehen vorbei in der Nacht.
    – Ich heiße Walter.
    – Wie, was?
    – Ich heiße Christoph, also Schlingensief, aber hier bin ich der Walter, Walter Mitty, hinten mit einem eleganten Ypsilon, ich hab mir auch einen Ausweis ausstellen lassen, hier (er zeigt ihn), man braucht hier keine Personaldokumente, die glauben einem das so, man kann hier sehr schön eine neue Identität aufbauen, ich liebe es, abtauchen zu können, dann und wann, ohne diese Möglichkeit würde ich zugrunde gehen wie eine Primel. Kommst du hier öfter her?
    – Manchmal.
    – Um was zu tun?
    Seine kneifende Verdauung lässt Stuckrad jetzt besser aus dem Spiel, wenn es gerade noch um das gedämpfte Knisterspiel eines Kekses im Ohr des anderen ging, niemand soll das wissen.
    – Ich mag die geschäftige Ruhe, die Spannung der greifbaren Stille hier, das entspannt mich wiederum, ich les mal hier was, mal dort, das inspiriert mich, stöbern, schmökern, ich hab jetzt auch ein Buch geschrieben.
    – Auch?
    – Also, wie all die Autoren hier, kommt im Herbst, und ich such ihm hier schon mal ein schönes Plätzchen, haha.
    Schlingensief lacht nicht. Stuckrad darf sich jetzt nicht verplappern, über ungelegte Eier redet man besser nicht, bringt Unglück.
    – Ich schreib auch im Internet, hab da auch ein Pseudonym, Marbert Mann, wie Thomas, da kann man dann jeden Quatsch schreiben, auch eine vollkommen neue Identität sich bauen, wie hier in der Bibliothek, zum Beispiel cholerisch sein, flegeln, sich auskotzen und so.
    – Und was ist das für ein Buch?
    – Betriebsgeheimnis, also, ich möchte darüber lieber nicht reden.
    – Wie heißt es