Ramses Mueller

ihre »Hochzeit«, kurz vorm Jawort, vorm Höhepunkt, eingeklemmt, Lydia und er, und dann verbrannt, das, was eigentlich allen, oder so gut wie allen Ameisenmännchen passiert, also allen außer einem, krepiert auf der Strecke, da bekommen sie Flügel zuletzt für nichts. Man wacht auf, wenn man stirbt.
    Stuckrad-Barre spürt zum ersten Mal, dass ihn so etwas wie Resignation, Erschöpfung, Zweifel anhaucht, warum soll er hier eigentlich noch alles lenken, kann ja auch mal ein anderer übernehmen, oder es lenkt sich selbst, so wie ein Vogel- oder Fischschwarm, da gibt’s ja auch keinen Lenker, nur Instinkt, und dann folgen alle, und wenn jetzt auch noch Christoph kommt, gibt’s zwei Führer, zwei starke Zentren, dann die drei Schwachen (Lydia, Schubal, Armin), und zwei neutrale Flanken, wenn jetzt noch Aska kommt, mit Frau Armatage. Eigentlich eine schöne Schlachtaufstellung, vor seinem sogenannten geistigen Auge entsteht ein Plan, mit vielen Pfeilen, die Stoßrichtungen anzeigend, Taktiken, Seilschaften, Kringeln, Schnittmengen usw., wie gerne würde er das jetzt auf ein großes Stück Papier aufmalen, die Personen der Handlung, vielleicht auf der Rückseite des Sade-Plakats, er hält ihre bedrohlich weichen Lippen schon lange nicht mehr aus, das ist wie ein Sofa, in das man sinkt und aus dem man schwer wieder rauskommt, so wie die Situation, in der er jetzt steckt, er spürt, sie fängt schon an, ihn zu verdauen, und sie kann noch viel mehr verdauen. Dann dreht er sie einfach um und fängt auf der Rückseite noch mal von vorn an. Mit Sade und der Situation. Warum soll er jetzt auch noch Christoph vorschreiben, wie er sich zu verhalten hat? Soll er doch kommen, soll er doch seine Animositäten mit Haußmann allein regeln, jetzt ist er ja sowieso in einer etwas besseren Position, er weiß etwas, was Leander nicht weiß, vielleicht kann er Schattenregisseur sein, nein, so weit will er, Ben, es nicht kommen lassen, andererseits, warum nicht, dann muss er gar nichts mehr tun, nur alles aufschreiben, und Christoph arrangiert alles, schiebt die Figuren auf dem Brett hin und her, das Problem bei Christoph ist dann aber, dass er sein eigenes Stück inszeniert, zwar unsichtbar für alle außer ihm, Ben, und vielleicht ist es letztlich das, was er meinte mit dem Stück vom Kuchen, das unsichtbare Theater im sichtbaren, aber dann flutscht mir ja alles durch die Finger, denkt Stuckrad, und ich bin hier nur noch der Angestellte, die Schreibkraft, der Dolmetscher, und dann wird er auch noch bei mir im Stück umschreiben und umstellen, das wird ihm doch keine Ruhe lassen, und das wäre sein sinistrer Plan, Haußmann ein Stück von sich unterzuschieben, und ich bin nur noch Zwischenwirt, hervorragende Taktik, das ist das echte Experiment, um Leander zu demütigen, hier, ich hab dich zu meinem Werkzeug gemacht, du tanzt nach meiner Pfeife. Ah, jetzt ist er sogar dankbar dafür, dass Christoph hier gleich antanzen wird und die Szene salzt, aber er muss seine Position unbedingt verteidigen, sehr wachsam sein, dass Christoph nicht zu viel von diesem Kuchen bekommt, denn davon bekommt man ja, wie er selbst sagt, Krebs.
    Als sie sich kennenlernten, da in der Donna-Amalia-Bibliothek am Wallraffplatz, Schlingensief arbeitete ja an seiner Dissertation über das Sozialleben der Ameisen, das wusste ja keiner, bis auf seine Eltern, und für die machte er das ja auch letztlich, seine geheime Obsession für diese Tiere, das lief ja parallel zu seinen Film- und Theatersachen, irrsinnig anstrengend natürlich, er wollte ausprobieren, inwieweit es möglich wäre, sich eine bürgerliche, wissenschaftliche Existenz, Karriere oder was auch immer, aufzubauen, diffus hatte er wohl im Hinterkopf, neben seinen permanenten Selbstzweifeln, mit Schauspielerin Hedy Lamarr zu wetteifern, der schönsten Frau der Welt, Nachfolgerin von Marlene Dietrich und Greta Garbo, die in ihrer Freizeit eine durch sich selbsttätig wechselnde Frequenzen störungssichere Fernfunksteuerung für Torpedos entwickelte, das ging zwar nie in Produktion, wurde aber später ein grundlegender Baustein des Frequenzwechsels bei Handyverbindungen. So was schwebte Schlingensief vor, schon damals waren seine Vorbilder nicht eben klein, und wenn das mal nicht klappt mit seinen Filmchen und Kunstaktionen, dann hat er immer noch seine Ameisen, bzw. wird darüber so im kollektiven Gedächtnis bleiben, und wenn nicht im kollektiven, dann doch in speziellen Kreisen, umso besser, das ist ja