Ramses Mueller
es gibt nichts, was es nicht gibt, das übersteigt jede Vorstellung, es ist einerseits immer der Mensch, der dem Menschen im Wege steht, aber auch, der ihn mit Perversionen abgefüllt hat, von irgendwoher muss das ja alles gekommen sein, aus der Natur kommt das ganz sicher nicht, schön wär’s, dann könnte man der die Schuld geben für alles Mögliche, Kriege, Konflikte, Streitereien, Morde, wenn es nur einen einzigen Menschen auf der Erde gäbe, gäb’s das alles nicht.
Wie auch? Wie soll denn ein Einzelner mit sich selbst Krieg führen, höchstens mit dem Über-Ich, innere Unsicherheiten, Schlingensief scheint zu Logorrhoe zu neigen, das ist ja auch ein Wunsch nach Bestätigung und Beachtung, vielleicht hat er einen Minderwertigkeitskomplex, rote Hosen machen kürzer? Absurd, allerdings kommt ihm Schlingensief, und nicht nur weil er jetzt sitzt, viel kleiner vor, als er ihn erwartet hatte, bzw. er hat ihn ja gar nicht erwartet, er hat sich nie mit ihm beschäftigt, sich ihn auch nicht vorgestellt, warum auch, der macht halt so schlimme Filme, mit Kettensägen und so, wird auch viel geschrien bei ihm, das sind so die Vorstellungen, die man so hat, er lässt auch gerne Randgruppen bei sich mitspielen, Afrikaner, Versehrte, Einarmige, Matrosen und Bucklige, Raubmörder, Kriegsheimkehrer, Kleinwüchsige, aha, daher seine Obsession für das Kleine vielleicht, dass er hier Ameisen studiert, findet Stuckrad allerdings nicht außergewöhnlich, vor allem, er darf das gar nicht außergewöhnlich finden, er, der er hierher zum Kacken kommt, »weil es immer ein Mensch ist, der dem Menschen im Wege steht«, das ist es, das beschreibt seine Situation hier sehr gut, Schlingensief steht ihm im Weg, und wer weiß, vielleicht steht er ja auch sich selbst im Weg, weshalb er als Ausgleich die Ameisen braucht, allerdings steht er, Ben, sich ja ebenfalls im Weg, er könnte ja einfach gehen, aufs Klo, er ist Schlingensief doch zu nichts verpfl ichtet, auch was er macht, ist nicht beweisbar, auch nicht strafbar, aber natürlich ist es unanständig, nur extra deswegen hierherzukommen, außerdem: Es hätte ihn ja gerade hier überkommen können, was es ja auch tat, aber eben nicht zufällig, sondern vorsätzlich, das ist der kleine unbekannte Unterschied, unbekannt für sie, und jetzt fühlt er sich so wie der Mensch, von dem Schlingensief eben geredet hat, der einzige Mensch auf der Erde, der einzige, bei dem sich, angeregt durch den Geruch von Papier, abführende Reflexe einstellen, er hofft, dass seine tobenden Gedanken von Schlingensief gespürt werden, instinktiv, dem geht’s nicht gut, der sitzt auf Nadeln, der hat’s eilig, dass Schlingensief wenigstens sagt, tut mir leid, aber ich muss jetzt hier weiterarbeiten, manchmal erfüllen sich doch solche Wünsche, aber, nein, er kann ja dann gar nicht aufs Klo, das ist ja nicht der Ausgang, wie sieht denn das aus, dass er zerstreut ist, Tür nicht findet, aus dem Klofenster fl üchten will, es wird alles nur noch komplizierter, es fühlt sich wie ein unentschlossener Zug an, ein Wind, den es eigentlich zum Fenster drängt, dem geöffneten, der aber aus Anstand stehen bleibt.
– Und du heißt?
– Äh, Ben.
– Benno?
– Benjamin.
– Und du bist der Enkel.
– Ja, sicher von meinen Omas und Opas.
– Klar, nein, das muss jetzt nicht stimmen, aber dein Kinn …
– Mein Kinn?
– Hat eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dem von Heiner Müller, kennst du den?
– Nein, wer ist das?
– Hamletmaschine , einer der wichtigsten deutschen Dramatiker, ostdeutschen, also, wenn man eure beiden Kinne abschneidet und zusammenklebt, nein, falsch, wenn man eure Kinne abschneidet und unter den Kopf des jeweils anderen klebt, sieht man absolut keinen Unterschied, sein Enkel, das könntest du sein, du bist der und gleichzeitig der, der das nicht weiß, das meinte ich neulich mit zwei Enkel.
– Neulich?
– Ah, ja vorhin.
– Vorhin, neulich und dann?
– Also etwas, was lange zurückliegt, aber an die Gegenwart drängt? Ein Wort, hm, das ist so eine Frage für Quizshows, Jauch, ordnen Sie folgende Wörter, beginnend beim aktuellsten bis zum am weitesten zurückliegenden.
– Unlängst?
– Und dann? Hinten ist schwer, vorne könnte noch jüngst kommen.
– Nein, jüngst kommt nach neulich. Vorhin, neulich, jüngst, unlängst, so würde das gehen.
– Man merkt, du bist gut mit Wörtern, bin gespannt auf deine Duke-Ellington-Biografie.
– Na ja, nicht direkt eine Biografie.
–
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