Rangun
Indiana zu lesen. Je mehr sie las, desto schwerer war es, die empfindsame, leidenschaftliche Anira, die Gerechtigkeit verlangte, mit der Rani in Einklang zu bringen, die Massenmord genoß.
Als Pandit Singh mit den Pflanzen kam, war er weniger geschwätzig als am Tag zuvor. »Vielleicht war es falsch von mir, schlecht über die Rani zu sprechen«, begann er nervös.
»Warum? Hast du gelogen?«
»Nein, nein, aber...«
»Ich werde Prinz Ram nichts erzählen. Ich bin hier genauso gefangen wie du.«
Er blinzelte, wurde dann mißtrauisch. »Falls Sie einen Fluchtweg suchen, ich weiß keinen. Sonst hätte ich ihn längst benutzt. Außerdem, Missy, ist draußen nur endloser Dschungel, kriegerische Shan... und Schlimmeres.«
»Ich weiß.« Sie lächelte kläglich. »Ich erforsche nur meinen Käfig, Pandit Singh. Ich habe auch über die Rani gelesen. Sie fasziniert mich.«
»Sie können von Glück sagen, daß sie tot ist. Es hieß, sie sei die Tochter Nagas, der Kobragöttin. Sie haßt ihr eigenes Volk, aber sie haßte die Feringhi mehr«, mit einem seltsam bösen Lächeln stellte er die Pflanzen ab, »vor allem Feringhi- Frauen.«
»Sie heiratete einen Feringhi « entgegnete Lysistrata.
Er spuckte auf die sonnigen Felsen. »Der Sahib hat sie nie geheiratet.« Er lächelte wieder. »Er baute Khandahoor für sie, aber er heiratete sie nicht. Sie war eine Prinzessin, machte sich aber zur Hure eines Feringhi, so daß sie nicht einmal in die Gesellschaft der Unberührbaren paßte. Die Feringhi wollten sie auch nicht haben. Darum verlangte sie, über Khandahoor zu herrschen.«
Lysistrata starrte auf die goldenen Blumen. Pandit Singhs Geschichte erklärte Aniras Enttäuschung teilweise, aber nicht ganz. »Du sagtest gestern, daß die Rani bei der Hinrichtung der Sepoy den Purdah zum letzten Mal verließ. Hatte sie sich zuvor so frei wie westliche Frauen bewegt?«
»Sie war schamlos«, sagte er bitter. »Sie trug nicht einmal einen Schleier. Sie war sehr schön und wußte, daß die Gefangenen nach ihr gierten, obwohl sie sie verachteten. Das amüsierte sie.« Er erstarrte und blickte furchtsam über Lysistratas Schulter.
Sie drehte sich um und sah Ram auf einem schneeweißen Araberhengst. Er führte eine passende Stute am Zügel. Sein Gesicht war kalt. »Du hast im Pfauenpalast Arbeit, Singh«, sagte er barsch. »Künftig wirst du mich fragen, bevor du am Phoenix etwas veränderst.«
Mit hastiger Verbeugung floh der alte Mann.
Ram hielt Lysistrata die Zügel der Stute hin. »Das ist Soleils Schwester, Parvati. Komm.« Es war ein Befehl, keine Einladung. Als sie aufgesessen war, sagte er scharf: »Ermutige den alten Mann nicht. Bei der Rebellion von achtundfünfzig hat er weiße Frauen wie dich zerstückelt.«
»Aber das war vor Jahren, und er ist ja fast senil«, protestierte sie. »Er fürchtet dich. Sicher ist er jetzt harmlos.«
»Senile vergessen manchmal ihre Furcht, wenn sie an die Vergangenheit denken. Wenn Singh findet, daß du Teil seiner Vergangenheit bist, versucht er vielleicht, dich dorthin zu schicken.«
Er gab seinem Pferd die Sporen, und sie folgte ihm. Zu ihrer Überraschung hielt er an der Zugbrücke und befahl, sie herunterzulassen. Mit klappernden Hufen verließen die Reiter die Festung.
Ram ritt über einen schmalen Pfad durch den dichten Dschungel, bis sie an den Rand des Plateaus kamen, von dem man den See überblickte. Hinter der Küstenlinie krochen winzige Boote wie Wasserspinnen über die Oberfläche. »Dort leben die Dorfbewohner.« Er deutete auf Stelzenhütten im See. »Manche gehen nie ans Land. Sie sind Fischer, aber sie bauen auch Gemüse direkt auf dem Wasser an.« Er zeigte auf riesige schlammgefüllte Palmwedelmatten, in denen Gemüse wuchs.
»Die Seebewohner liefern uns einen Teil der Lebensmittel. Andere bauen wir im Dschungel auf einer Reisplantage zu beiden Seiten von Khandahoor an. Die Arbeiter leben in der Nähe in Hütten.«
»Es sieht so friedlich aus. Plündern die Shan nie?«
»Das taten sie ständig, bevor Khandahoors Mauern errichtet wurden. Darum wurden der Graben und die Palisaden zuerst errichtet.« Er blickte über die Baumwipfel. »Vater und ich haben diesen Graben mit den Sepoy gegraben. In manchen Nächten schien der Dschungel von Shan erfüllt zu sein. Damals hatten wir nur wenige Söldner und nicht viele Gewehre. Wir trugen bei der Arbeit Pistolen.« Er grinste schwach. »Wenn ich einnickte, wußte ich nie, ob ich den Dah eines Shan oder den Kris eines
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