rank und schlank und rattenscharf
Kälte verträgt er genauso wenig wie ich.
Am kommenden Morgen ist trotzdem alles nass, auch der Wäschesack, den ich mir als Kopfkissen unter den Kopf geschoben habe. Ich brauche zwar das Zelt nicht abbauen, aber fürs Trocknen meiner nassen Sachen muss ich zusätzliche Zeit investieren. Ich wende sie mehrmals in der Morgensonne, bevor ich sie wieder einpacken kann. Bevor ich losgehe, werden die Zehen noch einmal neu verpflastert. Wieder rein in die noch feuchten Schuhe und los geht’s.
Wir sind gestern Abend auf diesen Hang hinauf gekrabbelt und jetzt ist es nicht so einfach, hier wieder heil herunter zu kommen. Die ersten Pilger liefen schon vorbei, als ich noch packte. Von hier oben kann ich alles genau beobachten. Sie haben im nahe gelegenen Nájera übernachtet, sind zwischen 6.00 Uhr und 7.00 Uhr losgelaufen und haben die ersten Kilometer bereits hinter sich.
Im nächsten Ort Azofra setze ich mich vor eine Bar und bestelle mir erstmal einen Kaffee. Ich muss einmal nachrechnen, welchen Wochentag wir heute eigentlich haben. Meine Aufzeichnungen im Tagebuch habe ich ohne Unterbrechung durchgeschrieben, ohne die einzelnen Tage voneinander zu trennen. Jetzt haben wir den Salat, ich weiß nicht mehr, welcher Tag heute ist. Es dauert einen Moment und dann habe ich es raus, heute ist der 19.06.2007. Aber was für ein Wochentag ist es? Ich lese mein Tagebuch durch und schreibe die Wochentage zwischen die Zeilen. So erhalte ich den Überblick von den bereits gepilgerten Tagen.
Ich sitze schon eine Weile, da kommt wieder das Zeitlupen-Pilgerpärchen. Sie setzen sich an einen freien Tisch, knutschen miteinander und trinken ebenfalls Kaffee. Wie aus heiterem Himmel taucht Jürgen auf. Ich habe ihn in Los Arcos kennen gelernt und nach der Regennacht am anderen Morgen zuletzt gesehen. Er sieht mich und kommt zu mir an den Tisch: „Hallo Burghard, alles klar, soll ich Dir was mitbringen?“ — „Einen Kaffee.“ — Er besorgt mir einen amerikanischen Kaffee und ich erzähle ihm, wie ich zwischen den Weinreben im Dauerregen mein Zelt aufgebaut habe. Jürgen meint: „Du musst eine besondere Auszeichnung in Santiago bekommen.“ — „Allein deshalb, weil ich diesen Weg mit Hund laufe und alle Strapazen auf mich nehme.“ — Jürgen erzählt, dass er im Refugio wegen seiner Schnarcherei von anderen Pilgern angeranzt wurde, obwohl er nicht der Einzige war, der laut schnarchte. Wir quatschen eine ganze Zeit und als ich ihn einladen will, noch einen Kaffee zu trinken, sagt er: „Ist schon OK, ich habe schon bezahlt. Vielleicht sehen wir uns nicht mehr wieder. Ich wünsche Dir eine schöne Zeit und einen guten Camino.“ — Jürgen macht sich wieder auf den Weg, eine Woche will er noch laufen, er läuft ihn in vierzehntägigen Etappen.
Meine Ladegeräte für Handy und Fotoapparat habe ich der Kellnerin gegeben, sie werden in der Bar aufgeladen. Ich trinke noch einige Kaffees und mehrere Cola Light. Mich erstaunt, wie manch ein Pilger auf diesem Weg ein- und aussteigt. Wie viele von ihnen werden den gesamten Weg laufen? Ich weiß es nicht. Wie ich ihn laufe, werden es wenige tun. Doch für mich stand von Anfang an fest, dass ich ihn nicht in mehreren Etappen laufen will. Wenn, dann sollte es gleich von Anfang bis zum Ende sein.
Da stellen sich gleich mehrere Fragen. Wo fängt der Weg eigentlich an und wo hört er auf? Gibt es überhaupt einen Anfang und ein Ende? Ist nicht jedes Ende automatisch ein neuer Anfang? Ist es nicht egal, wo ich anfange und wo ich aufhöre? Es ist doch viel wichtiger, sich überhaupt auf den Weg zu machen. Wo der Anfang oder das Ende ist, ist doch letztendlich völlig egal, oder?
Jürgen hat — wie viele andere Pilger — die Pyrenäen an einem Tag überquert. Er ist körperlich fit und läuft in Süddeutschland Marathon. Immerhin ist er bald zwanzig Jahre jünger als ich. Als junger Mann war ich auch sportlicher und fit wie ein Turnschuh. — Ich werde nun bezahlen und auch laufen. Wir haben genug verzehrt, Getränke, Croissant, Baguette mit Käse, alles habe ich mit Kira geteilt, außer Kaffee und Cola.
Bevor ich loslaufe spricht mich ein Mann vom Nachbartisch in Englisch an. „Hat der Hund keine Probleme mit den Pfoten?“ — „Bis jetzt noch nicht!“ — Es ist schon 14.00 Uhr, als wir wieder aufbrechen, ich habe ausgiebig im Tagebuch geschrieben und wir kommen nach einigen Kilometern an eine Weggabelung. Auf einem Schild steht, dass der kürzere Weg geradeaus
Weitere Kostenlose Bücher