rank und schlank und rattenscharf
zu dem Punkt, an dem ich vorhin umgekehrt bin. Nur wenige hundert Meter weiter stehen auf einer langen Fabrikmauer, die aus Gasbetonsteinen gebaut ist, in großen Buchstaben und deutscher Sprache folgende Zeilen:
Staub, Schlamm, Sonne und Regen
das ist der Weg nach Santiago.
Tausende von Pilgern
und mehr als tausend Jahre.
Wer ruft Dich, Pilger?
Welch’ geheime Macht lockt Dich an?
Weder ist es der Sternenhimmel
noch sind es die großen Kathedralen.
Weder die Tapferkeit Navarras
noch der Rioja-Wein
nicht die Meeresfrüchte Galiziens und auch nicht die...
Pilger, wer ruft Dich?
Welch geheime Macht lockt dich an?
Weder sind es die Leute unterwegs
noch sind es die ländlichen Traditionen
Weder Kultur und Geschichte
noch der Hahn St. Domingos
nicht der Palast von Gaudí
und auch nicht das Schloss Ponferradas.
All’ dies sehe ich im Vorbeigehen
und dies zu sehen, ist Genuß
doch die Stimme die mich ruft
fühle ich viel tiefer in mir.
Die Kraft, die mich voran treibt
die Macht, die mich anlockt
auch ich kann sie mir nicht erklären.
Dies kann allein nur ER dort oben!
Wie wahr.....
Darunter ist die deutsche Flagge gemalt. Wäre ich vorhin bis hier gelaufen, hätte ich sofort gewusst, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Jeder unnötige Meter tut doppelt weh.
Ich fotografiere dieses literarische Kunstwerk mit den vielen Fragen und der einzig richtigen Antwort. Alles kann ich nicht lesen, da Büsche die unterste Reihe schon überwuchert haben. Pilger, die im vorbeilaufen nur auf den Boden starren, werden vorüberziehen, ohne es zu lesen. Sie müssen sich ihre Fragen und Antworten dann selbst erlaufen, hart erarbeiten. Ich habe das Glück, diesen wahrhaftigen Spruch zu lesen, ihn zu verstehen und glauben zu können.
Wie lange hat diejenige Person daran wohl gearbeitet, bis sie damit fertig war? Es war einer oder eine alleine, man kann es an der gleichmäßigen Schrift genau erkennen. Die Ausführung ist wirklich gut gelungen und ich gebe der Künstlerin oder dem Künstler dafür die Note Eins.
Ich komme wieder von Norden in die Stadt, wie schon einige Male vorher, und stelle abermals fest, dass die ärmsten und sozialschwächsten Spanier hier wohnen, immer im nördlichsten Viertel einer Stadt. Ist es Zufall oder gibt es dafür eine Erklärung? Warum ist das so? —
Die Bewohner dieser armseligen Häuser oder Hütten sitzen an der Straße beieinander, eine große Schar Kinder spielt in dieser trostlosen Umgebung. Sie schenken mir nicht einen Moment der Beachtung und ich ziehe ohne jeglichen Kommentar an ihnen vorüber. Ich werde von ihnen einfach ignoriert. Haben sie sich an den vorbeiziehenden Pilgerstrom schon gewöhnt? Sie nehmen mich nicht wahr und auch als Pilger mit Hund bin ich keine Besonderheit.
Ich binde Kira vor einem Laden an eine Laterne. Sie bellt in einer Tour und ich kaufe schnell ein paar Scheiben Käse, Wasser und eine Apfelsine. Wir laufen weiter stadtauswärts an einem Fluss entlang, danach führt der ständig ansteigende Weg in einen Wald. Ich habe keine Lust mehr, weiterzulaufen, es ist Feierabend und spät genug. Auf allen Vieren krieche ich einen steilen Hang abseits des Weges hoch. Kira hat da keine Probleme, diese Steigung zu nehmen. Ich setze meinen Rucksack ab, lasse mich auf den weichen Sandboden fallen und blicke in die tief stehende Abendsonne. Diese Nacht werde ich noch mal versuchen, ohne Zelt zu schlafen. Wir essen noch gemeinsam, bevor die untergehende Sonne mit einem leuchtenden Abendrot den Tag verabschiedet. Von hier aus habe ich einen wunderbaren, weiten Blick in die Ferne, in die wir morgen wandern wollen. Ich genieße diese Atmosphäre und schreibe nur noch Stichpunkte in mein Tagebuch.
Kira liegt entspannt auf ihrer Decke dicht neben mir. Ich kraule sie zwischendurch und unterhalte mich mit ihr, ein ziemlich einseitiges Gespräch. Regen wird es heute Nacht bestimmt keinen geben, dafür haben wir einen wolkenlosen Himmel.
Auf einmal sind die Mücken zur Stelle. Ich hätte besser mein Zelt aufbauen sollen, aber an dieser Stelle ist der Untergrund viel zu uneben. Ich will mir das nasse Zelt für morgen ersparen, rolle mich in meinem Schlafsack ein und muss Hände und Gesicht vor diesen aggressiven Biestern schützen. Ohne Zelt ist es in dieser klaren Nacht saukalt. — Der Schlafsack soll bis fünf Grad minus geeignet sein, davon merke ich überhaupt nichts und bibbere vor mich hin. Bei Regen ist er klasse, doch
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