Raphael
mich von dessen Seite wegzuholen. Und genau das will ich nicht. Raphael hat wegen mir schon genug Ärger am Hals. Ich überlebe die kommenden Minuten schon, außerdem ist Setjan ja auch noch da.
Ich nicke Raphael zu. „Ich warte hier auf dich.“
„Gut“, meint er, wirft Kincade einen letzten, eindeutig giftigen Blick zu, der den aufseufzen lässt, dann macht er kehrt.
„Ich dachte, nur Setjan würde mich hassen“, murmelt Kincade zu sich selbst, weckt in mir aber den deutlichen Wunsch, ihm eine reinzuschlagen.
Eigentlich sollte ich zu dem Thema den Mund halten, aber manchmal ist mein Mund schneller als mein Kopf. Mich ärgert schon den ganzen Abend, dass Kincade den netten Gastgeber spielt, obwohl er ein Pädophiler ist. Vielleicht nicht nach geltenden Gesetzen, aber trotzdem. Wäre Setjans Junge freiwillig zu ihm ins Bett gestiegen, wäre es etwas Anderes, aber wer einen anderen Vampir, noch dazu einen um viele Jahre jüngeren, erst betäuben muss, um ihn ins Bett zu bekommen, der ist in meinen Augen nicht ganz dicht.
„Könnte das möglicherweise daran liegen, dass Sie Ihre Finger nicht von Dingen lassen können, die einem anderen Vampir gehören?“
Kincades Erstaunen ist echt, bevor er einmal blinzelt und sich sofort wieder unter Kontrolle hat. „Du kannst ja richtig unfein werden, Caine. Das hätte ich dir in deinem Alter nicht zugetraut. Erstaunlich, wie schnell Raphael auf dich abfärbt.“
„Quatsch“, fahre ich ungehalten an. „Raphael muss in nicht auf mich abfärben. Zu diesem Thema habe ich sehr wohl eine eigene Meinung.“
„Die offensichtlich gegen mich spricht.“
„Haben Sie etwas Anderes erwartet?“
Kincade hebt eine Braue. „Stehst du hier neben mir? Gesund und munter? Sofern mich meine uralten Augen nicht trüben, tust du es. So schlimm kann ich nicht sein.“
„Im Moment nicht“, gestehe ich ein, was nicht heißt, dass ich ihm über den Weg traue.
„Du verurteilst mich also, ohne mich zu kennen? Das passt zu dir und deinem jungen Alter, Caine. Doch bevor du nach einem Schafott schreist, solltest du wissen, dass ich Sean sehr gemocht habe. Was ich tat, war ein Fehler, mein Wunsch nach Nähe zu ihm war es nicht.“
Dieser Verrückte ist tatsächlich der Meinung, er hätte das Recht gehabt, Setjans Jungen zu nehmen, zu sich ins Bett zu holen ... ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Ich muss das Thema wechseln, sonst kotze ich ihm heute wirklich noch auf die Schuhe.
„Mein Wunsch nach Kontakt zu jenen Menschen, die ich verlassen habe, ist auch nicht falsch, trotzdem halte ich mich an das Gesetz und gehe nicht zu ihnen.“
Das ist zwar dick aufgetragen, aber die Wahrheit. Ich weiß, ich muss jetzt vorsichtig sein, doch eine ehrliche Feststellung ist hoffentlich harmlos genug, um Kincade abzulenken.
„Du vermisst all jene, die dir lieb und teuer waren?“, fragt er und ich kann mein Nicken nicht zurückhalten.
Es ist vermutlich nicht ratsam, mit dem Führer der Stadt darüber zu diskutieren, ob man als Vampir seinen lebendigen Vater besuchen soll, denn darüber denke ich nach, seit Chris tot ist. Es gibt nur noch Dad. Mum ist lange tot. Vor ein paar Tagen wäre mir dieser Gedanke wahrscheinlich nicht gekommen, aber ich glaube, jeder würde sentimental, wenn ein Mitglied seiner Familie vor den eigenen Augen getötet wird.
Wenigstens das hat Raphael mir erspart, trotzdem ist die Vorstellung mittlerweile unerträglich, dass Dad in ein paar Jahren stirbt und ich dastehe, ohne die Möglichkeit genutzt zu haben, mich wenigstens zu verabschieden. Ich weiß, dass Kincade für dieses Thema nicht der passende Gesprächspartner ist, aber alles ist besser, als weiterhin über Sean zu reden.
„Vielleicht wäre ein Abschied etwas, über das du ein wenig genauer nachdenken solltest.“
Hat Kincade meine Gedanken gelesen? Ich blicke ihn misstrauisch an, was ihn leise lachen lässt.
„Ich war früher ebenso jung wie du und stand vor der Frage, mich an Mutter und Vater zu wenden. Jeder von uns hat irgendwann diesen Gedanken.“
„Haben Sie es getan?“, will ich wissen.
Kincade schüttelt den Kopf. „Damals herrschten ganz andere Sitten als heute. Ich fand niemals den Mut dazu. Aber möglicherweise wären jene Menschen, nach denen du dich sehnst, erfreut dich zu sehen.“
„Es ist uns verboten.“ Ich habe nicht vergessen, was Raphael diesbezüglich zu mir gesagt hat.
„Wohl wahr“, stimmt Benedict mir nickend zu. „Aber ein Abschied ist, was das Wort sagt.
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