Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
Hauptverkehrsfluss des Lebens, so hatte er sein Werk genannt, das danach für knapp zweihundert Scheinchen den Besitzer gewechselt hatte.
Hält mich Hendrik echt für zu dick? Ich schob das Glastellerchen beiseite. »Ich glaube, ich bin satt.«
»Von den zwei Bissen?«, fragte er ungläubig.
»Na ja«, begann ich das Gespräch in Richtung Figur zu lenken. »Immerhin stecken eine Menge Kalorien in diesem Grand-Manier-Parfait. Schwer, das wieder runterzubekommen.«
Er stützte das Kinn auf seine ineinandergefalteten Hände und lächelte mich an. »Du bist wunderschön, so wie du bist.«
Ein seltsames Geschenk
Am Wochenende darauf lagen meine Kleidungsstücke ordentlich zusammengelegt in einem der Echtholzschränke des verstorbenen Alfred Zapf. Eines musste man ihm zugestehen; er bewies Charakter im Einrichten seines Hauses. Vom Dach bis zum Keller knarrten die naturbelassenen Gegenstände, je nach Raumtemperatur und Feuchtigkeitsgehalt. Sogar der alte Röhrenfernseher knackte nach dem Ausschalten noch ewig nach, so dass ich Angst hatte, ihn jemals wieder einzuschalten.
»Und? Fühlst du dich zu Hause?«, fragte Hendrik mich.
»Wird schon«, kürzte ich meine Bedenken ab und widmete mich dem Abendbrot. »Gürkchen?«, fragte ich ihn und wedelte mit einer Spreewaldgurke vor seinem Gesicht herum.
Er schnappte danach und ließ sie in seinem Mund verschwinden. »Hm … ich mag diese sauren Dinger.«
Ich griff zwei weitere aus dem Glas. »Das sind die Besten, die es gibt«, brachte ich ihn auf Gewürzgurken-Informationsstand, während ich die Minigürkchen in die Pfanne schnitt. »Bei Bratkartoffeln à la Waldmann sind sie einfach ein Muss.«
Hendrik nickte. »Hm … riecht lecker.« Er stocherte mit einer Gabel im noch unfertigen Essen herum.
»Lass das!«, forderte ich. »Du zerkratzt die Beschichtung der Pfanne.«
Sein Blick ließ vermuten, dass er von Pfannenbeschichtungen genauso viel Ahnung hatte wie ein Beduine voneiner Fahrradkette. Ich drückte ihm einen der herumhängenden Holzlöffel in die Hand. »Nimm den dafür.«
Alfred Zapf schien oft und gern gekocht zu haben, was mir sehr entgegenkam. Er hatte alles, was man dafür brauchte – Töpfe, Pfannen, Wender, Rührwerkzeug, Teigschieber und Quirls. Gerade als ich Hendrik den Unterschied zwischen Gabel und Holzlöffel erklären wollte, klingelte es an der Haustür.
Ein Päckchen am Sonntag? Ich blickte misstrauisch auf den gut verklebten Karton in seinen Händen. In Berlin werden allerhöchstens Bombenpakete an einem Sonntag geliefert. Aber doch keine typischen Postsendungen. Mein Adrenalin stieg an. »Was ist das?«
»Keine Ahnung.« Hendrik drehte das Päckchen auf der Suche nach einem Absender.
»Mach das lieber nicht«, stotterte ich, bereit, beim kleinsten Geräusch zu fliehen. Aber Hendrik störte sich nicht daran und begann auch noch die unbestellte Sendung zu schütteln. Ich zog instinktiv den Kopf ein. Gleich passierte es! Gott, ich wollte doch noch Rapunzel spielen.
»Das ist von Isabell«, mutmaßte Hendrik. Und sein einziges Indiz war die Farbe des Lippenstiftes, mit der sein Name und die Adresse darauf gekritzelt waren.
»Deine Ex?«, erwiderte ich erschrocken. Er hatte mir von ihr erzählt und auch von der unschönen Trennung, die in einer Art unehelichem Rosenkrieg endete. Eine Rohrbombe! Bestimmt mit hundsgemeinen Nägeln und einer Portion Säure, schoss es mir durch den Kopf. In solchen Situationen war ich ein wahrer Angsthase. »Bitte, mach es nicht auf!«, bettelte ich, bedacht auf die abschreckende Wirkung, die Säure in Gesichtern hinterlässt. »Und überhaupt, weshalb sollte sie dir ein Päckchen schicken? Unddann auch noch per Taxikurier?« Die Angst hatte sich mittlerweile in sämtliche Ecken meines Körpers gefressen. Immerhin las man ständig solche Dinge in der Zeitung. In meinen Ohren summte es. Und vor meinem inneren Auge las ich schon die Zeitung von morgen: Aufstrebender Tierarzt von der Detonation einer außergewöhnlichen Rohrbombe zerrissen! Ein zweites Opfer liegt nach einer komplizierten Gesichtswiederherstellungsoperation auf der Intensivstation des hiesigen Krankenhauses. Hinweise, die zur Identifizierung der Überlebenden führen, blabla …
Ein Schauer fuhr durch meine Glieder. Fast war mir, als könnte ich schon meine verkohlte Haut riechen. Doch dann fiel mir unser Abendbrot ein. Mist! Die Bratkartoffeln!
Nachdem ich mit Hendrik die Nebelschwaden aus der Küche getrieben hatte, tat sich vor uns eine
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