Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
vorbei. Wild gestikulierend sträubte sich die Patientin gegen das bevorstehende Ziel.
Etwas weiter hinten kam ein verglaster Tresen, hinter dem sich zwei Stationsschwestern einem vollgedröhnten Teenager widmeten. Der Rotschopf mit dem Irokesenschnitt und den bläulichen Strähnen – oder waren die Grün? – hatte offenbar die Nase vom Herumliegen voll. Er verlangte, entlassen zu werden oder wenigstens etwas Stoff für seinen – und das schwor er mit Hand aufs Herz – allerletzten Schuss.
»Entschuldigen Sie bitte«, fragte ich zögerlich. »Ich möchte zu Sarah Kramer.«
Ohne aufzublicken, zeigte eine der Schwester zur Decke, gefolgt von einem gegrummelten: »Eine Station höher.«
Aha! Die ganz Kaputten lagen also unten. Ich murmelte ein »Danke« und lief zurück zum Lift.
Nachdem ich auch noch die Zimmernummer in Erfahrung gebracht hatte, klopfte ich sachte gegen die schwere weiße Tür des Krankenzimmers.
»Mensch, ja«, ertönte es von drinnen. Und es klang verdammt nach Sarah. Vorsichtig öffnete ich einen Spalt und spähte hinein. Sarah saß auf ihrem Bett. Ihre Beine baumelten herab, während sie ihr zerzaustes Haar um den Finger drehte. Als sie mich sah, huschte ein winziges Grinsen über ihr Gesicht. »Komm rein und schau genau hin«, rief sie sarkastisch. »Sarah Kramer, der aufstrebende Stern am Schauspielhimmel, die nach Schulschluss den Wischmoppam Theater schwingt, um sich ihre Miete und die verfluchte Ausbildung zu verdienen, ist wieder ins Milieu gerutscht.« Dabei fuchtelte sie mit ihren Armen herum, als wolle sie eine Besoffene nachäffen.
»Mensch, Sarah …«
»Lass mich ausreden!«, fiel sie mir ins Wort. »Also … diese Sarah Kramer ist wieder unten angekommen, da wo angeschafft, gekokst und gefixt wird, wo es den ganzen Dreck von Berlin hinweht. Und nun? Glaubst du mir nun?« Sie ließ sich zurück auf Bett fallen und vergrub ihr Gesicht im Kissen. »Gott, Rapunzel, ich hasse diesen Scheiß! Ich will so nicht mehr …«, brach es aus ihr heraus.
Ich beugte mich über sie. »Denk nicht mal dran! Hörst du?« Dabei rüttelte ich an ihr herum. »Hörst du?«, wiederholte ich, um sie von dem Gedanken an Selbstmord abzubringen. Mein Puls war auf dem Weg zu olympischem Gold, und in meinem Kopf brüllte die Stimme: Verpiss dich aus diesem Zimmer! Was geht es dich an!
Eine Lüge ist fast keine Lüge
»Ihre Schwester?« Die Stationsärztin musterte mich skeptisch.
»Sicher!«, log ich überzeugend. »Ich war einige Zeit beruflich unterwegs und habe gestern Abend erst von Sarahs Einlieferung erfahren.« Ich kramte in meinem Rucksack. »Du meine Güte! Ich muss wohl voller Hektik die Börse mit den Papieren vergessen haben.«
»Schon gut«, unterbrach die Ärztin meine Wühlaktion. »Wir werden Ihre Schwester morgen in die Psychiatrie überweisen.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ist das denn notwendig? Ich meine, wäre es nicht von Vorteil, wenn ich sie mit zu mir ans Meer nehme und vor Ort psychiatrisch behandeln lasse?«
Die Ärztin strich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Hm, aus medizinischer Sicht wäre nichts dagegen einzuwenden. Sie müssten allerdings in dieser Zeit als Betreuerin ihrer Schwester fungieren.«
»Aber natürlich«, versicherte ich.
»Okay. Dann werde ich die Papiere fertigmachen, die Sie mir allerdings unterschreiben müssten.«
»Kein Problem«, lächelte ich. Herrgott im Himmel! Was bitte gibt’s für Urkundenfälschung? Ich wusste es nicht, aber gewiss war es mehr als drei Vaterunser …
Richard schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. »Du hast was?«
»Was sollte ich denn tun?«
Er schwang sich auf den Schminksessel und fuhr sich durchs Haar. »Du landest noch mal im Knast für deine Gutmütigkeit.«
»Blödsinn!«, hielt ich dagegen. »Ist doch nur eine dumme Unterschrift.« Die anderen vier Unterzeichnungen plus der doppelten Ausführungen ließ ich lieber weg.
»Ich glaube, du solltest dich mal schlaumachen, Süße. Urkundenfälschung ist eine Straftat und wird mit bis zu …«
»Papperlapapp«, unterbrach ich seine Gesetzespredigt. »Ich helfe einer Freundin, so sehe ich das. Und Rügen ist weit genug weg von dem Zeugs, der Stadt und dem ganzen Mief.«
»Gott, Koks ist doch kein Zeugs! Es ist die Droge des Vergessens, der aufgeschobenen Sorgen und der Reichen. Zumal ich mich frage, woher Sarah die Kohle dafür hatte.« Er schüttelte ungläubig seinen Kopf. »Egal, sie wird es sich auch auf Rügen besorgen, du wirst sehen.«
»Und
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