Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
wanderte ihr Blick zu meinen Haaren.
Ich nickte und versuchte ihre Mimik zu entziffern. »Jule, nicht wahr?«
»Genau.« Sie stellte den Milchkarton zur Seite. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich dein Zimmer benutze. Elke meinte, es wäre okay für die Zeit, während ich am Ministerium volontiere.«
Okay? Nichts war okay! Ich musterte ihre Füße, die trotz ihrer Nacktheit eine gewisse Eleganz ausstrahlten. Auf ihren Fußnägeln spiegelte sich das Licht vom Kühlschrank. »Nein, tut es nicht. Und bitte, keine Pinguine.«
Sie sah mich fragend an. »Was meinst du mit ›keine Pinguine‹?«
»Wegen des offenen Kühlschranks«, erklärte ich und schloss die Tür. Mich hatte das schon immer geärgert, wenn irgendwer ewig und unentschlossen in den Kühlschrank starrte und dabei die ganze kalte Luft entwich. Man muss doch vorher wissen, was man will.
Jule blickte mich immer noch verdutzt an.
»Dieser Kasten ist ein Stromfresser, wenn er ständig nachkühlt, verstehste?«, versuchte ich sie von der Notwendigkeit einer geschlossenen Kühlschranktür zu überzeugen. Mit wenig Erfolg. Offenbar hatte sie nix mit Energieund Sparpolitik am Hut. Minuten später hing sie erneut mit dem Kopf im Kühlschrank, auf der Suche nach einem Joghurt, der unbedingt noch in dieser Nacht gegessen werden müsse, wegen des Verfallsdatums. Kopfschüttelnd kapitulierte ich, griff mir Richards Gemüsesaft und nahm einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Wenn die Neue schon nicht sparen wollte, dann wenigstens ich, auch wenn es nur das Geschirr für die Spülmaschine war.
Als ich ins Zimmer zurückkehrte, war es ungewöhnlich still. Richard saß auf der Gästeliege, den Kopf auf seine Hände gestützt.
»Alles klar?«, fragte ich etwas in Sorge.
»Nichts weiter. Nur Kopfweh«, antwortete er gähnend.
Ich küsste seine Stirn und kroch zurück ins Bett, das nach Richards spezieller Nachtcreme roch. »Sollen wir tauschen?«, fragte ich ihn. »Vielleicht sollte ich den Rest der Nacht auf dieser Klapperliege schlafen.«
Aber Richard verneinte, löschte das Licht und rollte sich wieder in seine Kuscheldecke.
Ich hatte mich so sehr auf ein Frühstück in gewohnter Runde gefreut – mit Richard, Elke und Sarah am Tisch zu sitzen und bei Ei, Kaffee und Schrippen zu plaudern. Stattdessen saß ich in der Schnellbahn und düste durchs morgendliche Berlin. Bevor ich wieder nach Rügen aufbrach, wollte ich Sarah besuchen, ihr eine Moralpredigt halten und sie in den Arm nehmen. Richard wäre gerne mitgekommen, musste aber ins Theater. Wir sprachen ab, dass ich später zur Vorführung der Schauspielabschlussgruppehinzustoßen würde. Ich vermisste es, in der Requisite zwischen Mottenkugeln und Kleidern zu stöbern. Und natürlich fehlten mir die spannenden Minuten vor dem Auftritt, in denen ich mit feuchten Händen auf Richards Stuhl saß, während er mich zu einem völlig neuen Menschen schminkte. Mal war ich eine Bäuerin, mal die Bedienstete eines Generals, aber am liebsten war ich Rapunzel.
Ich blickte nach draußen. Die Hektik der Stadt huschte an mir vorbei. Ich suchte verzweifelt nach dem wohligen Gefühl, nach dem Klick im Kopf, der mich meiner Heimat wieder näherbrachte. Aber in meinem Kopf spukten nur Dinge herum, die nichts mit Berlin zu tun hatten. Ich dachte an Hendrik, sah, wie Knuffelbär es sich auf meiner Bettseite gemütlich machte, hörte das Wimmern vom Füchschen und das Rauschen des Meeres.
»Tschuldigung«, murmelte ein Mann, der mich versehentlich anstieß und aus den Gedanken riss. »Sind Sie Berlinerin?«, fragte er beim Hinsetzen.
Ich wollte nickten, jedoch überkam mich eine seltsame Steife im Genick. »Eigentlich … bin ich Rügenerin«, stammelte ich.
»Ach so«, erwiderte er etwas enttäuscht. »Dann wissens’ wohl och nich, wo die Arge sitzt.«
Klar, wusste ich das. »Nächste Haltestelle raus und links die Hauptstraße runter, bis dahin, wo die meisten Kippen auf der Erde liegen.«
»Ach, was?«, nuschelte er erstaunt. »Da muss man wohl och vor de Türe rochen jehn? Diese scheiß Nichtrocherzonen! Zum Kotzen ist das! Oder wat meenen Sie?«, schimpfte er vor sich hin.
Ich nickte, während meine Gedanken schon in der Klinik weilten.
Ich hasste Krankenhäuser! Sie machten mir Angst und rochen nach Desinfektion, obwohl doch jeder wusste, dass sich in ihnen die meisten Bakterien tummelten. Eine Schwester schob eine ältere Dame, die in einem dieser rollenden Betten lag, in einem Affenzahn an mir
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