Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
Rind.
Nach fünf Gläsern hatte Richard diesen glasigen Blickund konnte Hominophobie nur noch nach drei Ansätzen aussprechen. Er stützte sein Kinn auf die zusammengefalteten Hände. »Und du willst Sarah echt mitnehmen?«
»Ja! Aber wir waren gerade bei dir und deinem Problem«, erwiderte ich barsch auf sein Ablenkungsmanöver. Mir blieben noch wenige Stunden, um Richards außergewöhnliches Verhalten zu entlarven. Ich schenkte nach, um ihn redseliger zu machen.
Er prostete mir zu und nippte am Glas. »Ich habe mit Harry telefoniert«, sagte er, als wäre es das Normalste von der Welt.
»Harry? Mit deinem Vater?« Erstaunt stellte ich mein Glas ab. »Ich dachte, ihr redet nicht miteinander, seit dieser Geschichte damals.«
»Nein! Du verstehst nicht.«
Stimmt! Ich verstand das wirklich nicht, zumal sein Vater ihn mit sechzehn aus dem Haus geworfen hatte. Und das in Unterwäsche, mitten in der Nacht, nur weil Richard seinen Freund ins Zimmer geschmuggelt hatte. »Du hast ihm doch nicht etwa verziehen? All die Jahre, in denen er sich einen Teufel um dich geschert hat!«
»Hör auf!«, mahnte er mich und brach in Tränen aus. »Ich musste mit ihm reden, verstehst du?«
Ich griff nach seinen Händen, die zitternd auf dem Tisch ruhten. »Nein, tu ich nicht. Erklär es mir.«
»Weil mir der Arzt sagte, ich müsse mit ihm sprechen, ihn fragen, woran meine Mutter starb.«
Langsam kapierte ich, das es hier nicht um Versöhnung ging, sondern um etwas Ernstes. »Was auch immer es war, sie hat dich geliebt«, versuchte ich ihn zu besänftigen, was jedoch einen Heulkrampf zur Folge hatte. Mist! Ich hatte in eine Wunde gestochen, deren Ursprung ich nicht kannte. »Menschenskind, vergiss die Vergangenheit!«
»Das will ich ja! Aber meine Mutter hatte FFI. Sie verstarb an einer tödlichen Insomnie.«
»Und was hat das alles mit dir zu tun?«, fragte ich, nicht wissend, was das zu bedeuten hatte.
»Weil ich es wahrscheinlich auch habe, verdammte Scheiße! Ich werde genau wie sie an Erschöpfung verrecken!«, schluchzte Richard. Er zog seine Hände aus meinen und schlug mit der Faust auf den Tisch. Immer und immer wieder. »Du, dieser Scheißkerl hat gewusst, dass diese Krankheit autosomal dominant vererbt wird und mir nie was gesagt! Selbst nach ihrem Tode nicht!«
Ich starrte entsetzt auf die Szenerie, die ich selber ausgelöst hatte. Wie versteinert saß ich meinem besten Freund gegenüber. Ich suchte nach Worten, irgendwas, das ihn trösten könnte, fand aber nichts. Erst Minuten später konnte ich die herumwirbelnden Wortfetzen in meinem Kopf zu einem klaren Gedanken ordnen. Ich stand auf, ging um den Tisch und umarmte ihn so fest ich nur konnte.
»Gibt es einen Test?«, flüsterte ich. »Einen, der dir Gewissheit verschafft?«
Richard zitterte am ganzen Körper. »Ja! Aber ich hab ne Scheißangst davor.«
Das konnte ich gut verstehen. Ich drückte seinen Kopf an meine Schulter und betete an diesem Abend: Lieber Gott, lass meinen Freund nicht diesen Tod sterben – den Tod durch Erschöpfung.
In dieser Nacht bekam ich kein Auge zu. Ich hatte Richards Hand gehalten, in den Augenblicken, in denen er kurz wegschlummerte, die ganze Nacht lang. Ich dachte an den Moment im Restaurant, wo alles aus Richard herausbrach, an dem die Welt stillstand und mir die Gesichtszüge entglitten. Ich hatte doch mit allem gerechnet, dass er zumHetero mutiert war oder diese Phobie hatte – Verdammt! Wieso konnte es nicht diese bescheuerte Phobie sein? –, aber nicht damit, dass er vielleicht todkrank war und irgendwann vor mir von dieser Erde verschwinden würde. Und überhaupt, wollte ich nicht an seinen Tod denken müssen. Petrus mit Dauerwelle und lila Augenbrauen? Gott, nein! Richard durfte nicht gehen, nicht ohne sich noch einmal in den Richtigen verliebt zu haben und den Schwur abzulegen, Petrus’ Haare niemals anzurühren. Ich streichelte über seine Wange, die glatter als ein Babypo war. Wie schaffte er das nur? Er wirkte glücklich in seinem kurzweiligen Traum, der gewiss vom glamourösen Auftritt eines Superstars handelte. Und er hatte ihn geschminkt und zu dem gemacht, was die Fans bejubelten. Richard war eben Richard! Ein schmächtiger Typ mit femininer Ausstrahlung, der das Herz eines Löwen besaß, wenn es darum ging, für seine Ideale einzutreten. Und dafür liebte ich ihn. Aber jetzt war es an der Zeit, dass er für sich kämpfte – gegen die zunehmende Schlaflosigkeit und den Gedanken, dass er todkrank war und
Weitere Kostenlose Bücher