Rasheed, Leila
Sie lachte und weinte zugleich. »Du hast mir jede Art von Freiheit gegeben. Mit dir habe ich mich nie anders als frei gefühlt. Du hast mich in meinem Entschluss bestärkt, nach Oxford zu gehen, und …«
»Und wie willst du in Oxford studieren, wenn du in Indien lebst? Als Frau eines schlechtbezahlten Angestellten, der für eine Organisation arbeitet, die von der britischen Regierung des Hochverrats verdächtigt wird?«
Ada öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Der Schock schien ihr ins Gesicht geschrieben zu stehen, denn er schlang die Arme um sie und zog sie leidenschaftlich an sich. Sie presste ihre Wange an seine Brust, sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers danach, für immer so gehalten zu werden.
»Ada, du wirst mir dafür noch danken. Vielleicht nicht nächstes Jahr, vielleicht auch nicht übernächstes Jahr, aber in zehn Jahren, wenn sich alle deine Träume erfüllt haben und du glücklich bist. Dann wirst du wissen, dass ich das Richtige getan habe.«
»Du kannst mich doch nicht einfach so verlassen«, flehte sie mit erstickter Stimme in das weiße Leinen seines Hemds.
»Ich muss. Es bleibt mir nichts anderes übrig, zu deinem Besten.«
Nichts in ihrem Leben hatte Ada auf dieses schreckliche Gefühl des Verlusts vorbereitet. Das durfte doch nicht wahr sein! Sogar noch während Ravi sprach, dachte sie: Es wird etwas passieren. Ein Donnerschlag, ein Wunder, das alles verändert.
Aber sie standen weiterhin an derselben Stelle. Die Bahnhofsuhr schlug zwölf.
»Der Zug!«, rief Ada. Wie schnell war die Zeit verflogen.
Ravi sah blass aus. Er zog sie wieder an sich und küsste sie. Ada überließ sich ihm mit allen Sinnen, die Welt begann sich zu drehen, als er ihr durch die Haare strich, den Arm um ihre Taille legte und sie noch enger an sich zog. Ada hatte nur einen einzigen Gedanken: Das kann nicht das letzte Mal gewesen sein. Das kann einfach nicht sein. Unmöglich.
Da fiel Licht in ihre Augen, und instinktiv ließen sie einander los. Ein Gepäckträger war dabei, den Rollwagen wegzuschieben. Ravi wich in den Schatten zurück. Der Mann starrte Ada an.
»’tschuldigung, Miss. Hab Sie nicht gesehen. Hoffe, ich hab Ihr Kleid nicht erwischt?«
Sie stammelte: »Nein … nein, alles in bester Ordnung, danke.«
»Sie sollten da nicht stehen, Miss, wirklich – das ist gefährlich, Sie könnten leicht eingequetscht werden«, fuhr der Gepäckträger fort, doch Ada hörte ihn kaum, so war sie erschrocken.
Charlotte stand am Ende des Bahnsteigs und blickte Ada mitten ins Gesicht. Ihre Miene war undurchdringlich. Ada blieb fast das Herz stehen. Hatte sie den Kuss beobachtet?
Langsam und widerstrebend ging sie zu Charlotte hinüber. Falls sie tatsächlich etwas gesehen hatte, dann lagen Adas Ruf, ihre ganze Zukunft, jede Chance, nach Oxford zu gehen, ganz in der Hand ihrer Stiefschwester.
»Da also steckst du«, empfing Charlotte sie.
Ada antwortete nicht. Hatten die Worte einen Hintersinn? Charlottes Gesicht war völlig verschlossen, aber glomm da nicht ein Funke in ihren Augen? Zumindest bildete sich Ada das ein.
»Jetzt komm schon. Der Zug fährt gleich ab, und der Schaffner wird unseretwegen schon ungeduldig.« Charlotte drehte sich um und marschierte den Bahnsteig entlang. Ada folgte ihr. Sie sah Fiona aus einem Fenster lehnen und winken, der Schaffner fuchtelte gereizt mit den Armen.
Hastig kletterte sie in den Zug, und fast sofort ertönte der Pfiff. Zumindest hatte sie so eine Ausrede für ihre Atemlosigkeit und Röte. Fiona saß allein im Waggon der ersten Klasse; Rose und Stella waren schon in die Zweite Klasse verbannt worden.
»Also wirklich, Ada, wie du herumtrödelst« sagte Fiona sichtlich verärgert.
»Es tut mir leid«, murmelte Ada, als sie sich setzte.
»Das kann ich mir vorstellen«, stichelte Charlotte, und Ada hob mit einem Ruck den Kopf. Den Bruchteil einer Sekunde lang maßen sie einander mit Blicken, dann drehte sich Charlotte zum Fenster. Der Zug fuhr los, aus dem Bahnhof hinaus, die Lokomotive stampfte, der Dampf zog in Schleiern am Fenster vorbei. Ada versuchte hindurchzuspähen, hoffte verzweifelt, Ravi ein letztes Mal zu sehen. Aber er blieb unauffindbar, so sehnsüchtig sie auch nach ihm Ausschau hielt. Der Zug nahm Fahrt auf, und dann konnte Ada gar nichts mehr erkennen, nicht einmal mehr den Rauch, denn ihre Augen waren voller Tränen.
Dritter Teil
Somerton
33
Rose stand in der Haushälterinnenstube und wrang unruhig die Hände, während sie darauf
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