Rasheed, Leila
reden.« Sie erschrak vor seinem dringlichen Ton und drehte sich halb um, bis ihr wieder einfiel, wo sie war.
»Stimmt irgendetwas nicht?«
»So kann man es eigentlich nicht nennen.« Er zögerte. »Treten Sie hinter den Gepäckwagen, wenn ich Ihnen sage, dass die Luft rein ist.«
Sie nickte. Kurz darauf, als sie schon das Gefühl hatte, dass sie den Preis jedes einzelnen Schokoriegels auswendig kannte, sagte er: »Jetzt.«
Ada machte ein paar rasche Schritte zur Seite, hinter den Automaten, und fand sich im Schatten des Kofferberges wieder. Einen Moment später folgte Ravi ihr nach.
»Ich freue mich so sehr, Sie zu sehen«, begann sie. Ihre Stimme zitterte, denn sie sah ihm an, dass ihm etwas auf der Seele lag.
Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich … ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
Er klang so ernst, dass ihr angst und bange wurde. »Was ist denn? Ist etwas passiert?«
»Ja … aber nichts Schlimmes.«
»Da bin ich aber erleichtert.« Sie lächelte.
Doch er erwiderte ihr Lächeln nicht. »Sie wissen, dass ich mit dem Indischen Nationalkongress in Verbindung stehe.«
Ada schloss die Augen. Ihre Erleichterung verflog genauso rasch, wie sie gekommen war, und neue Ängste überrollten sie. »Haben Sie … sich etwas zuschulden kommen lassen?«
»Im Gegenteil, anscheinend habe ich ein paar wichtige Männer hier in Großbritannien beeindruckt, die mit unserer Sache sympathisieren. Sie haben mich gebeten, als Mittelsmann zwischen ihnen und dem Kongress in Indien zu fungieren.«
Ada sah ihn mit großen Augen an. »Das ist … ja wunderbar«, sagte sie zögerlich. Aber war es das? Ihr Vater wäre sicher der Meinung, Ravis Aktivitäten grenzten an Hochverrat.
»Ja, das ist es. Das ist genau die Arbeit, die ich machen möchte, von der ich weiß, dass ich sie gut machen werde und die ich vor mir selbst vertreten kann.« Während er sprach, verfinsterte sich sein Blick.
»Aber …?«
»Die Stelle ist in Bombay.«
Es entstand ein langes Schweigen.
»Ich verstehe«, sagte Ada schließlich schwach. Bombay! Das war so weit weg. »Aber – werden Sie nicht erst Ihr Studium in Oxford beenden?«
Er schüttelte den Kopf. »Oxford ist ein Traumland, das erkenne ich jetzt. Für Sie ist es der richtige Ort. Aber ich muss nach Indien zurück. Das empfinde ich als meine Pflicht.«
Wieder sprach er, und durch das Rauschen in ihren Ohren drangen seine Worte zu ihr durch.
»… ich wollte Ihnen schon in Oxford etwas sagen, fand aber nicht die richtigen Worte. Also muss ich es jetzt versuchen, damit Sie mich verstehen.« Er nahm ihre Hand. »Ich glaube an Indien, und das andere, woran ich glaube, Ada – das sind Sie.«
Sie sah ihn verwirrt an.
»Seit ich Ihnen auf der Moldavia begegnet bin und gesehen habe, wie entschlossen Sie sind, nach Oxford zu gehen und aus dem goldenen Käfig auszubrechen, in dem die Gesellschaft Sie gefangen hält, bewundere ich Sie unendlich. Sie haben die Kraft, alles zu erreichen, was Sie wollen. Das möchte ich Ihnen nicht wegnehmen. Ich möchte Ihnen nicht schon vor Ihrem ersten Flug die Flügel stutzen.«
»Ich begreife nicht«, sagte sie. »Wie sollten Sie das tun?«
»Indem ich meinem innigsten Wunsch nachgebe – und Sie frage, ob Sie meine Frau werden wollen.«
Ada stockte der Atem. Der lärmende Bahnhof schien in plötzlicher Stille zu versinken. Zitternd trat sie näher an Ravi heran. Er sprach hastig weiter.
»Das beschäftigt mich, seit ich die Nachricht von diesem Posten erhalten habe. Ich habe davon geträumt, dass wir heiraten, dass wir zusammen nach Indien gehen, dass wir arm, aber glücklich sein würden. Und dann habe ich erkannt, wie selbstsüchtig meine Träume sind.«
»Aber ich möchte dich doch heiraten«, brach es aus ihr heraus, als ihr mit einem Schlag plötzlich klar wurde, dass sie sich genau das die ganze Zeit gewünscht hatte. Nichts ersehnte sie sich mehr. »Ich will doch! Wie kannst du daran zweifeln?«
»Ich zweifle nicht daran. Aber ich werde dich nicht darum bitten.«
Sie entzog ihm ihre Hand. »Ich verstehe nicht, was du da sagst.«
»Ich sage, dass wir unmöglich zusammen sein können, auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche. Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden.«
»Aber ich liebe dich!«, rief sie.
»Und ich liebe dich. Sehr. Viel zu sehr, um dich an eine Ehe zu ketten, die du zweifellos irgendwann bereuen würdest. Viel zu sehr, um dir jede Chance auf Unabhängigkeit zu stehlen.«
»Ravi, was für ein Unsinn.«
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