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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dass es zu einer Wiedergeburt führen könnte, hatte nur wenig von einer Bildungsreise. In seinem Fall blieb die Wiedergeburt aus. Die Inspiration wollte sich nicht einstellen.
    Carl hatte das Gefühl, als stünde er auf dem Inlandeis, dieser großen unbenutzten Leinwand, auf der Gottes Schöpferkraft nicht ausgereicht hatte und seine eigene ausblieb. Wenn alle Farben der Welt zusammenliefen, wäre das Resultat weiß. Die Farben würden sich gegenseitig aufheben. Sie kehrten zurück in das blanke Nichts, das vor Beginn von allem existierte. Die Leinwand wurde wieder weiß, als hätte es nie einen schöpferischen Drang gegeben – und genau an diesem Punkt befand er sich jetzt.
    Auf eine sonderbare Weise, die er sich nicht erklären konnte, verschmolzen für ihn das Ausbleiben der Inspiration und Jonas’ Verschwinden. Wenn der Eskimo endlich auftauchte, würde die Inspiration auf dem Fuße folgen. Jonas würde ihn bei der Hand nehmen und ihm einen Weg über das Inlandseis zeigen. Carl ging der blasphemische Gedanke durch den Kopf, dass es genau dort Platz für ihn gab, wo Gott aufgegeben hatte. Er konnte diese Leinwand füllen, auf der Gottes Hand versagt hatte. Auf der unbenutzten Fläche erwartete ihn die Freiheit, nicht die Leere. Hier konnte er von vorn beginnen.
    »Wenn die Sonne zum ersten Mal unter den Horizont taucht und die Winterdunkelheit ihre Rückkehr ankündigt, ist mein Schicksalsdatum gekommen. Wenn Jonas bis dahin nicht erschienen ist, dann ist meine Reise vergeblich gewesen«, sagte er sich.
    Ein törichter Gedanke. Aber er spürte deutlich, wie viel Wahrheit darin steckte.
     
    Dann kam der Abend, an dem die Sonne einen Augenblick hinter dem Horizont verschwand, wie eine kleine rote Glut, die gelöscht wird, um einen Moment später wieder in voller Größe zu erstrahlen. Das Licht am Himmel blieb unverändert.
    Mit jedem Abend verschwand die Sonne nun länger. Oben im Zenit begann die Dunkelheit zu wachsen. Der Winter rückte heran wie eine schwarze Wolke aus dem Kosmos, die sich langsam der Erde näherte.
    »Mein Winter«, dachte er. »Meine Dunkelheit.«
    Oder entsprach das Ausbleiben der Inspiration dem Gefühl von eiskaltem Wasser, nicht von Dunkelheit, war es eher wie ein totes Licht auf der unterseeischen Reise eines Eskimos, wenn die Sonne noch immer zu sehen, aber zu weit entfernt ist, um zu blenden und zu wärmen?
     
    Hin und wieder vermisste Carl die Unterhaltung mit dem Arzt aus Upernavik. Am meisten vermisste er jedoch die Daheimgebliebenen, und er wusste, dass diese Sehnsucht, der er sich nun hemmungslos hingab, ein Zeichen dafür war, dass er aufgegeben hatte. Er hatte den Glauben an sich verloren. Der Wille seiner Jugend war verschwunden. Er würde die Knoten seiner Ehe nicht lösen, nicht aus Marstal fortziehen, nicht die neuen Orte der Kunst besuchen, die in Europa entstanden.
    Er betrachtete die Eskimos, die in seiner Malerei eine so große Rolle gespielt hatten, und Ekel huschte über seine Züge. Nein, er würde nicht zur Winterzeit in ihre Hütten gehen. Er würde nicht anfangen, die Nachtseite ihres Wesens oder ihren schwarzen Glauben an das Böse zu erforschen, das nicht nur in der Natur herrschte, sondern auch sämtliche menschlichen Handlungen steuerte. In ihrem Glauben gab es weder Erlösung noch Gnade oder Vergebung, sondern lediglich Schamanismus und endlose Geisterbeschwörungen. Er wollte nicht alle möglichen seltsamen Gestalten annehmen, um den Menschen danach zu erzählen, wie es gewesen war. Er wollte nicht dem Beinamen entsprechen, den Jonas ihm gegeben hatte, ›Derjenige, der heimkehrt‹.
    Und doch würde er heimkehren, heim nach Marstal, aber auch der Weg nach Hause erschien ihm jetzt als Fluchtroute. Wie alles andere.
    Mechanisch reproduzierte er weiterhin den Motivkreis, den er bereits auf seiner ersten Grönlandreise für sich gewählt hatte.
    Er wusste, was er tat. Er kopierte seine erste Reise, nichts weiter.
    Er vermisste einen Blick, diesen Blick, der seinem Pinselstrich hätte Leben einhauchen sollen.
    Er wusste, dass er Jonas nie wiedersehen würde.
     
    S ein Aufenthalt auf Grönland endete mit einem Skandal.
    Ihn traf keine Schuld, aber er war der Anlass. Er hatte etwas getan, über dessen Konsequenzen er sich nicht im Klaren war; niemand hatte es vorhersehen können, und doch fühlte er sich schuldig. Er hatte getan, was er immer tat. Er malte, und plötzlich verstand er, dass das Verbrechen in der Kunst selbst bestand.
    Der Vorfall ereignete sich

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