Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
hinauf und zog – Hafen um Hafen, Etappe um Etappe – eine Bilanz seines Lebens.
»Du hast doch so viel erreicht«, hatte Anna Egidia oft zu ihm gesagt.
Der Ausdruck in ihren Augen erschien ihm jedoch als ein einziges großes Dementi ihrer eigenen Worte. Hatte er ihr zu viele Bürden auferlegt? Zu viel verlangt? Hatte er sie aufrichtig geliebt? Oder hatte sie lediglich als Stellvertreterin für Henrietta herhalten müssen? Und was war schließlich dabei herausgekommen? Diese Flucht nach Grönland und Zweifel, nichts als Zweifel.
So viel schuldete er Anna Egidia, und gleichzeitig arbeitete unablässig ein wahrer Berg von Vorwürfen in ihm. Und so ungerechtfertigt sie auch waren, konnte er doch nicht verhindern, dass er sie pausenlos vorbrachte. Hatte sie ihn in der richtigen Weise unterstützt? Hatte sie ihn verstanden?
Er hatte der Familie das Haus in der Teglgade gebaut. Dieses Haus hatte nichts von den Skipperhäusern und ihrer engen Romantik. Es signalisierte Wohlstand und war ein angemessener Rahmen für eine große Familie und einen Künstler, dessen populäre Werke sich gut verkauften.
Aber war es auch ein angemessener Rahmen für einen Künstler, der seine Freiheit brauchte? Und entpuppte sich Anna Egidia nicht als ein Teil der Zwangsjacke, die ihn so fest einschnürte? Sie brauchte das Familienleben, keine hochtrabenden Künstlerträume. Sie hatte viel für ihn geopfert. Aber hatte er nicht auch das Wichtigste für sie geopfert: seine Freiheit, ein Risiko einzugehen und seine Kunst in neue, unsichere Bahnen zu lenken?
Mit den Jahren hatte dieses negative Band sie verbunden. Keiner von ihnen hatte losgelassen. Stattdessen verzichteten sie beide. Er erhielt seine Freiheit nur zum Teil. Ebenso wie sie ihre Sicherheit.
Carl reiste die Westküste Grönlands entlang und fühlte sich klein. Aber nicht aufgrund der überwältigenden Natur. Sondern wegen seiner Unentschlossenheit. Möglicherweise lag in dieser Unentschlossenheit die eigentliche Ursache, dass er noch einmal nach Grönland aufgebrochen war. Er wollte Zeit gewinnen, um einen Entschluss zu fassen. Und doch nagte die Willensschwäche an ihm. Man kann sich für neue Wege entscheiden. Aber man kann nicht entscheiden, sich inspirieren zu lassen.
Er malte sich von Hafen zu Hafen, von Landspitze zu Landspitze, von Eisberg zu Eisberg, von Siedlung zu Siedlung, von Kajak zu Kajak. Er malte die Peru, wenn das Schiff mit schlaffen Segeln im grönländischen Sommer auf dem windstillen Meer trieb. Er malte das Schiff mit einer rostroten Felswand im Hintergrund, wenn es vor Anker lag. Die Sonne stand noch immer vierundzwanzig Stunden am Himmel. Die Inspiration blieb aus. Er hatte seine Technik.
Überall, wo er sich mit seiner Staffelei oder seinem Skizzenblock niederließ – entweder an Deck der Peru oder im Fjell – tauchten Zuschauer auf. Eins hatten sie alle gemeinsam: Sie wussten nichts über die Kunst. Sie hielten ihn für einzigartig. Nein, so etwas, sagten sie und staunten. Sie waren so leicht zu beeindrucken, dass er sich für ihr Lob schämte. Er fühlte sich wie ein Betrüger. Seine Palette und seine Leinwand schienen Requisiten in einem Zirkus zu sein. Ein Maler für Wilde und Seeleute! Aber war er denn wirklich etwas anderes?
Carl vermisste Jonas aus tiefstem Herzen, den Jonas, der einst vor dem Porträt von Hans Egede auf Håbets Ø gesessen hatte, nicht den Jonas, den Johan Mørk ihm beschrieben hatte. Hin und wieder blickte er hastig auf, wenn eine Gruppe Neugieriger sich um ihn scharte. Er spürte den Blick auf sich und glaubte einen hoffnungsvollen Augenblick, dass Jonas sich in der Gruppe verbarg. Jedes Mal wurde seine Erwartung enttäuscht und er fühlte sich leer und einsam.
Carl war hierher gekommen, um einen Entschluss zu fassen. Oder besser, um die Inspiration einen Beschluss fassen zu lassen, um, wie in seiner Jugend, noch einmal diesen Flügelschlag zu spüren. Er wollte wieder mit dem Pinsel in der Hand fiegen. Kunst bedeutete Rücksichtslosigkeit, und Rücksichtslosigkeit brauchte er. Doch nun schienen alle Wege versperrt, und er sank kraftlos zusammen. Die Peru segelte stur nordwärts, wendete irgendwann und trat die Rückreise an. Er selbst kam nirgendwo hin.
Angerlartoq. Er dachte an Jonas’ Bezeichnung für ihn. Johan Mørks Abschiedsworte hatten den Namen so klingen lassen, als befände er sich auf einer Bildungsreise. Aber diese Reise durch das kalte Totenreich des Meeres, von dem die Eskimos sich vorstellten,
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