Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Porträt von Hans Egede auf Håbets Ø. Es war lange her, seit er es zuletzt gesehen hatte, und beim Wiedersehen hatte er nur Augen für ein Detail: Diese naturwidrige Farbe, die er den Augen des Missionars gegeben hatte; der einzige rebellische Moment seines Lebens, als er sich dem verbotenen Kobaltblau ergeben hatte, das er zum ersten Mal so kräftig vor Färber Jørgensens Haus in Ærøskøbing hatte leuchten sehen und dann im Blick seiner Liebsten wiederfand. Zu seinem Schreck war er damit noch einmal konfrontiert worden: auf dem Selbstbildnis des besessenen Franzosen im Dachatelier. Dieses ketzerische Kobaltblau, die heimliche Farbe seines Lebens, seine ganze Lebensgeschichte ließe sich um seinen Widerstand gegen diese Farbe erzählen. Hier hatte er sie zugelassen, den winzigen Spalt zu einer anderen Welt, eine Art Gotteslästerung mitten im Gesicht eines Heiligen.
Er hatte sich immer vor dieser Farbe geschützt. Er musste es tun. Es war die Farbe seiner Geliebten, und sie war tot. Man kann eine Tote nicht lieben. Man muss das Leben jenen Menschen zugewandt leben, die da sind, und das hatte er getan. War das sein Fehler? Aber wenn ja – wem gegenüber hatte er sich dann schuldig gemacht, den Lebenden oder den Toten?
Oder bestand sein Fehler darin, dass er beides wollte? Wollte er sich weder die Lebenden entgehen lassen noch die Toten aufgeben? Hatte er sein Leben daher nur zur Hälfte gelebt, unentschlossen, mit abgetönten Farben des Daseins, so wie er die Farben seiner Leinwände abtönte?
Es kam ihm alles so ausweglos vor.
Am folgenden Tag ging Carl mit dem Skizzenblock auf Motivjagd. Auf dem Fjord brachten zwei Frauenboote und vier Kajaks Familien von der landeinwärts liegenden Sommersiedlung nach Hause. Weiter draußen an der Mündung des Fjords sah er zwischen den kleinen Inseln ein paar glänzende Walrücken auftauchen. Er setzte sich auf den mitgebrachten Schemel und begann mit einer Skizze. Obwohl er zunächst allein war, dauerte es nicht lange, bis eine Schar Neugieriger sich um ihn versammelt hatte. Wie Möwen, wenn ein Schiff Abfälle ins Meer kippt. Kein Vogel scheint am Himmel zu sein, und im nächsten Moment kämpft eine schreiende Möwenschar um die unappetitlichen Reste. Hier gab es so wenig Interessantes, dass die Striche eines Malers auf einem Blatt Papier sehr schnell als eine wahre Sensation angesehen wurden.
Seine täglichen Exkursionen wurden zur Routine, aber nur für ihn, nicht für die Müßiggänger der Kolonie, die unter den Einwohnern in der Mehrzahl zu sein schienen. Ihre Schar wuchs täglich und versammelte sich zu einem regelrechten Volksmarsch, wenn er als Anführer über die Felsen den Fjord entlangging.
In den nächsten Tagen nahm er Staffelei, Leinwand und Malkasten mit und versuchte, sich so ungezwungen wie möglich zu verhalten. In den vorausgegangenen Monaten hatte er sich an Neugierige gewöhnt, aber bei Godthåb handelte es sich um die größte Siedlung, und nie zuvor hatte er so viele Zuschauer gehabt. Sie schubsten und kämpften, um in den inneren Kreis zu kommen, und wiesen auf Details hin, die sie eifrig diskutierten.
Es war lästig. Hätte er tatsächlich seine Inspiration gefunden, hätte er es als unerträglich empfunden. Nun fand er sich mit dem Lärm ab. Er kannte die Motive und die Palette mehr oder weniger auswendig, und die Arbeit ging rasch von der Hand.
Nie hatte er das Gefühl, dass von der Menge irgendetwas Bedrohliches ausging.
Am fünften Tag glitt auf dem Fjord ein blauer Eisberg aus gefrorenem Süßwasser vorbei. Er hatte eine eigenartige Form und glich beinahe einem Schloss mit emporragenden Türmen und Mauern, eine schwimmende Fata Morgana, die ihren Betrachter erschlagen konnte, sollte er sich zu nah heranwagen. Carl spürte eine eigenartige Erregung bei diesem Anblick. Er griff zu einer Tube und presste Farbe auf die Palette. Dann übertrug er sie mit hektischen Strichen direkt auf die Leinwand, ohne sie abzutönen.
Erst da wurde ihm klar, dass er Kobaltblau benutzte.
In diesem Augenblick bemerkte er, dass die Schar um ihn herum unruhig wurde. Die Zuschauer wandten ihm den Rücken zu und schauten über den Fjord, an dem sich der hohe Berg, der Hjortetakken genannt wurde, mit seinen zwei Gipfeln erhob. Aufgeregt redeten die Eskimos aufeinander ein und zeigten auf irgendetwas; ihm ging der verrückte Gedanke durch den Kopf, dass draußen im Fjord ein konkurrierender Maler aufgetaucht wäre, der ihm die Aufmerksamkeit stahl. Er
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