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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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stand von seinem Schemel auf und schloss sich der aufgeregten Gruppe an.
    Carl hatte das Gefühl, als wäre Jonas unter ihnen. Er drehte sich nach rechts und links, aber Jonas war nirgendwo zu sehen. Wie üblich. Seine Sehnsucht verwirrte ihm die Sinne.
    Doch das Gefühl, von jemand beobachtet zu werden, blieb.
    Zunächst begriff er nicht, wohin die Menge starrte. Das Panorama vor ihm bot nichts anderes als den gewöhnlichen, durchaus imponierenden Anblick vorbeitreibender Eisberge und steiler Fjellhänge, die sich hinter dem facheren, mit Heidekraut bedeckten Vorland erhoben. Endlich entdeckte er, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Eine kleine schwarze Gestalt, die sich mit verblüffender Geschwindigkeit in der Landschaft bewegte. Wieder hörte er das Wort Qivitoq und erinnerte sich von seinem ersten Aufenthalt, dass es sich bei einem Qivitoq um einen Fjellgänger handelte, der sich außerhalb der Gemeinschaft gestellt hatte und einsam und verachtet in der wilden Natur lebte.
    Mehr ereignete sich nicht, und er setzte sich wieder, um an seinem Bild weiterzuarbeiten. Die Gruppe um ihn herum war mit einem Mal verschwunden. Ungewohnt, allein zu sein, schaute er sich um und sah sie ein Stück entfernt auf einer Landzunge stehen, wo es eine bessere Aussicht auf den Fjord gab. Im ersten Moment war er erleichtert über die unerwartete Arbeitsruhe. Dann starrte er wie gelähmt auf die Leinwand, von der ihm die kobaltblauen Pinselstriche ins Auge sprangen. Als hätte ein Fremder die unvermischte Farbe aufgetragen. Unruhig blickte er sich um. Dem Lärm nach zu urteilen, schienen die Eskimos erregter als je zuvor. Sein Blick fiel auf einen Menschen, der sich mit einem seltsam springenden Lauf näherte, beinahe wie ein Hirsch auf der Flucht. Konnte es derselbe sein, den er eben so weit entfernt beobachtet hatte, also der Qivitoq, der mit schier unbegreifichem Tempo weit mehr als die Hälfte der gewaltigen Distanz zurückgelegt hatte?
    Jetzt wurde auch Carl neugierig, und statt sich wieder seiner Malerei zuzuwenden, behielt er die laufende Gestalt im Auge, die immer näher kam. Die Gruppe auf der Landzunge setzte sich plötzlich in Bewegung und rannte hastig zu ihm zurück. Ihm ging durch den Kopf, dass sie einen Qivitoq nicht nur verachteten, sondern auch fürchteten. Suchten sie Schutz bei ihm? Oder war es umgekehrt? Kamen sie, um ihn zu beschützen?
    Einen Augenblick später hatte die Gruppe Carl erreicht. Sie blickten ihn ernst an und verhielten sich leise. Sie standen um ihn herum, er starrte in die gleiche Richtung wie sie. Es gab keinen Zweifel. Der Qivitoq hielt direkt auf sie zu. Er wusste nicht genug über Eskimos, um einschätzen zu können, ob sie unter normalen Umständen in Panik gefüchtet wären. Jedenfalls blieben sie stehen.
    Der Qivitoq kam zu ihnen. Carl konnte das Geschlecht nicht erkennen, ging aber davon aus, dass es sich um einen Mann handeln musste, obwohl ihm das Haar in langen verfilzten Zotteln über Rücken und Schultern hing, die mit Lumpen aus Fuchsund Hasenfell bedeckt waren. Ein aufgedunsenes und beinahe schwarzes Gesicht mit schmalen Schlitzen als Augen, die Zähne hingegen waren blendend weiß, als die Lippen sich öffneten und das Wesen einen Wortschwall von sich gab. Jedes Mal, wenn der Qivitoq seinen Mund aufmachte, zuckte die Menge erschrocken zusammen. Seine Rede erinnerte eher an eine Abfolge von Schreien als an Sätze, die eine logische Verbindung miteinander hatten.
    Carl versuchte gar nicht erst, die Worte zu verstehen, so fremdartig erschien der ganze Auftritt. Seine Neugierde verwandelte sich in Ekel. Er hörte jemanden in der Menge das Wort Maliáraq murmeln und sah einen anderen zur Bestätigung nicken. Als hätte ihn ein Stoß getroffen, sprang der Qivitoq nach vorn und wies auf Carl.
    »Maliáraq«, wiederholte der Mund.
    Dann folgte ein neues Wort, das er trotz der verzerrten Aussprache sofort wiedererkannte. Es war sein eigener Name.
    »Rasmussen!«
    Der Qivitoq sprang hin und her, wobei sein schwarzes Gesicht sich zu fürchterlichen Grimassen verzog.
    Carl blieb wie versteinert stehen. Allmählich wurde ihm der Zusammenhang klar. Ihm wurde eine Anklage entgegengeschleudert. Er brauchte keine Übersetzung.
    Die Aufmerksamkeit der Eskimos richtete sich nicht mehr auf das schreiende Wesen, stattdessen begannen sie, ihn böse anzustarren. Carl streckte abwehrend die Hände aus, als würde er einen Angriff erwarten.
    »Nein, nein«, beschwor er sie. Er hörte die Angst in seiner

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