Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Stimme.
Dieselbe Angst, die ihn ergriffen hatte, sprang auf die Menschenmenge um ihn herum über. Auch sie zogen sich zurück, aber nicht vor dem Qivitoq, den sie vergessen zu haben schienen, obwohl er seine Schreierei mit unverminderter Lautstärke fortsetzte, sondern von ihm. Er sah die Furcht in ihren Augen, sie fassten sich an den Armen und Händen, als ob sie Schutz vor einer Bedrohung suchten, die – und daran zweifelte er nicht länger – von ihm auszugehen schien. Sie hatten ebenso viel Angst vor ihm wie er vor ihnen, und das Ganze hätte komisch sein können, wenn es nicht so fürchterlich gewesen wäre.
Carl drehte sich um und lief zurück zu Berendtsens Haus.
Hinter sich hörte er einen Schlag. Er sah sich um. Die aufgebrachte Schar hatte seine Staffelei umgeworfen und zertrampelte die Reste, wobei sie den Inhalt seines Malkastens über den Boden verstreuten; dann nahmen sie sich der Tuben mit der Ölfarbe an. Die Farben spritzten über den Boden. Es glich einem Lavastrom aus dem Erdinneren, Funken eines geologischen Wutausbruchs aus unvermischten Farben.
In diesem Augenblick entdeckte er ihn. Er sah ihn ganz deutlich und hatte keinerlei Zweifel.
Es war Jonas. Regungslos stand er da und betrachtete die Verwüstung, als hätte er keinen Anteil daran.
Carl lief, bis er das Haus erreichte. Er blieb atemlos am Fuß der Treppe stehen und griff sich an die Brust, in der sein hämmerndes Herz ihn vor weiteren Anstrengungen warnte.
Berendtsen hielt sich zu diesem Zeitpunkt im Proviantlager auf. Seine Frau Gertrud öffnete die Tür und half ihm herein. Noch bevor er protestieren konnte, hatte sie ihm ein Glas Branntwein eingefößt. Er bekam einen üblen Hustenanfall und einen roten Kopf, aber der starke Trunk hatte dennoch die beabsichtigte Wirkung. Sie führte ihn zu einem Stuhl, auf den er erschöpft sank, wobei er nach seiner überstürzten Flucht noch immer um Atem rang.
»Um Himmels willen, was ist denn geschehen? Normalerweise tauchen um diese Jahreszeit keine Eisbären auf. Und schon gar nicht so nah an einer Siedlung.«
»Es war kein Eisbär«, stöhnte er.
Carl wusste genau, was die Eskimos veranlasst hatte, sich gegen ihn zu wenden. Er verstand ihre Motive nicht, die sicher im tiefsten Winkel ihres abergläubischen Gemüts zu suchen waren. Aber er glaubte, eine Erklärung für die Ursache ihrer plötzlichen Feindseligkeit gefunden zu haben. Er war nicht so vertraut mit dem Geisterglauben der Eskimos wie Mørk, aber er wusste doch genug über die Gedankengänge eines primitiven Geistes, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Und das Resultat erschütterte ihn. Ihm eröffnete sich plötzlich ein Abgrund angesichts dessen, wie die Eskimos seine Fähigkeiten als Maler einschätzten. In seinem Hirn herrschte Chaos. Und Angst, als würde er sich nicht mehr von der primitiven Welt unterscheiden, sondern wäre von ihr eingeholt worden, als hielte er sich in einem fremden Land auf, das von unbekannten Gesetzen gelenkt wurde, die er jeden Moment zu übertreten riskierte – mit den furchtbarsten Konsequenzen.
»Lieber Freund, Sie sind ja vollkommen durcheinander.«
»Es sind nur die Nerven.«
Er wurde von Selbstmitleid überwältigt. Er wusste, dass er sich mit dieser Bemerkung der robusten Gertrud auslieferte, die kaum vor etwas so Unbestimmtem wie Nerven Respekt zeigte. Aber er war bereit, was auch immer zu sagen, wenn er nur allein gelassen würde.
»Ich glaube, ich gehe nach oben und lege mich hin.«
Sie musterte ihn, als ob sie fürchtete, einen Wahnsinnigen in ihrem Haus zu beherbergen. Dann siegte ihre mütterliche Natur.
»Ja, tun Sie das. Brauchen Sie noch etwas?«
Carl schüttelte den Kopf.
Er hatte wohl einige Stunden auf seinem Bett gelegen, als es an der Tür klopfte. Berendtsen kam herein, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Was ist denn los, Rasmussen? Ich hab einen Aufauf am Fjord gesehen und wollte der Sache nachgehen. Sehen Sie mal, was ich gefunden habe.«
Er hielt Carls Malkasten in der Hand.
»Ihre Staffelei ist Kleinholz. Keiner wollte mir etwas sagen. Irgendwie müssen Sie sich doch mit den Grönländern angelegt haben. Die Nerven, sagt meine Frau. Aber ich sage, es muss doch wohl mit dem Teufel zugehen, wenn man so an der Ausübung seiner Arbeit gehindert wird.«
Berendtsen setzte sich aufs Bett, das unter seinem Gewicht nachgab. Er legte eine Hand freundschaftlich auf Carls Schulter.
»Na, was ist passiert? Raus mit der Sprache. Wir müssen das im Griff
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