Rasputins Erbe
Deniz konnte ihr jedoch nichts Neues dazu mitteilen – Julia ließ sich nicht anmerken, dass sie erleichtert war. Sie hatte nun wirklich genügend eigene Probleme, um die sie sich kümmern musste.
Sie dachte nach: „Erstens, wie soll ich die Sache mit Alexej regeln? Und zweitens, was mache ich mit Annabelle?“ Julia malte sich düster aus, wie sie Annabelle betrunken machte und in ein Taxi nach Nirgendwo steckte – aber so etwas funktionierte nicht einmal in schlechten B-Movies, also lenkte sie ihre Gedanken wieder auf realistischere Bahnen.
Ihr Kater hatte sich eine Stunde später bereits verflüchtigt. Die versifften Schuhe hielt Julia gerade abschätzend in der Hand, wohl wissend, dass sie sie in diesem Zustand ohnehin nie wieder in der Öffentlichkeit tragen würde, als zum dritten Mal an diesem Morgen ihr Handy klingelte. Sie war zwar eine typische Frau, wie sie sich vor einigen Jahren in ihrer ersten psychologischen Sitzung unter Tränen hatte eingestehen müssen, aber eine Eigenschaft teilte sie nicht mit der weiblichen Welt: sie telefonierte nicht besonders gerne, vor allem nicht dann, wenn sie gerade dabei war, ihre frisch eingetragenen 1000-Euro-Schuhe in den verfrühten Ruhestand zu schicken.
„Ja?“, blaffte sie entnervt in ihr Handy. „Hallo? Wer ist da?“, fragte sie, als niemand antwortete. Sie wollte gerade wieder auflegen, als eine leise Stimme folgende unheilvolle Worte aussprach: „Du wirst in Zukunft die Finger von ihm lassen, ist das klar?“ Julia erkannte die Stimme zwar nicht, aber es konnte ja nur Annabelle sein. „Jetzt hör mal gut zu, du blöde Kuh. Du hast mir gar nichts zu befehlen. Wenn du mich nochmal in eine solche Situation bringst, werde ich die Polizei einschalten. Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
Annabelle kicherte bloß und setzte unbarmherzig nach: „Du wirst ihm ohnehin nicht genügen. Ich habe es in deinen Augen gesehen. Keine Frau und auch keine Julia dieser Welt hält ihm auf Dauer stand.“ Was faselt die ja, dachte Julia. In dem Moment, als ihr eine passende Antwort eingefallen war, hörte sie ein Klicken und das Gespräch war beendet.
Langsam machte sich Julia wirklich Sorgen. Sie hatte jedoch keine Beweise, weder die Belegschaft im Shepheard , der Bar der Verdammnis, wie Julia den Edelschuppen mittlerweile nannte, hatte mitbekommen, was im Bad wirklich passiert war, noch Alexej, der seine Zeit damit verschwendet hatte, sich einen vierten Mai Thai zu bestellen. Sie hatte nichts gegen Annabelle in der Hand und sie ahnte, dass das noch zum Problem werden könnte.
Nachdem sie den Vormittag und größere Teile des Nachmittags mit Fernsehen verbracht hatte, um sich von ihrer unmöglichen Lebenssituation abzulenken, rief sie ihre beste Freundin an. Bei ihr machte sie immer wieder gerne eine Ausnahme, was ihre Handy-Unlust anging.
„Hey, Julia. Wie war das Meeting gestern? Ich wollte eigentlich noch anrufen, aber ich hab's irgendwie verschwitzt.“ Verena war ein Schatz, sie war im sechsten Monat schwanger und nahm sich dennoch immer Zeit, wenn Julia eine starke Schulter brauchte, um sich anzulehnen oder sogar auszuheulen.
„Frag' bloß nicht. Es war der reinste Alptraum. Um ein Haar hättest du mich nicht mehr erreichen können, denn ich habe heute fast meinen Job verloren und wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich mich auf jeden Fall erhängt“, platzte Julia erleichtert heraus. Endlich konnte sie wieder sie selbst sein.
„Moment, ich roll kurz in die Küche“, meinte Verena in Anspielung auf ihren aktuellen Bauchumfang. „So, jetzt geht’s. Matthias guckt mit ein paar Kumpels Fußball, da stören meine Frauengeschichten wahrscheinlich nur. Allerdings weiß ich auch nicht, was die an dem kleinen Ball so spannend finden. Matthias hat mir letztens von einem neuen Fernseher vorgeschwärmt. Der hat eine HD-Auflösung oder so etwas in der Art. Also ich brauche das nicht, du? - Oh, entschuldige, du wolltest mir ja etwas erzählen“, fügte sie hinzu, als sie merkte, dass sie wieder einmal zu weit ausgeholt hatte. Julia machte das nichts aus, sie war wirklich froh, endlich eine freundliche Stimme am Telefon zu hören. Eine, die keine Drohungen aussprach.
Julia erzählte ihr von den Geschehnissen, Verena unterbrach sie mit diversen Ausrufen wie „Oh, Gott“ oder „Echt wahr? Ach du Scheiße“ oder „Du musst zur Polizei gehen“. Verena lud Julia kurzerhand zu sich nach Hause ein, denn sie spürte, dass es noch einiges zu bereden
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