Rasputins Erbe
sie gar nicht wusste, wo Alexej überhaupt wohnte. Bisher hatte sie ihn im Hotel getroffen, an neutralen, sicheren Orten. Jetzt machte sie sich auf eine Reise in die Höhle des Löwen.
Der Fahrer schien ihre Gedanken zu erraten, denn er informierte sie nun über die ungefähre Fahrtdauer. „Wir sind in knapp 15 Minuten da. Wenn Sie etwas lesen möchten“, sagte er und knipste mit einem Knopf im Cockpit das hintere Licht an, „dann finden sie in dem Fach hinter meinem Sitz einige Magazine.“
Julia war baff. Diese Leute dachten auch wirklich an alles. Aber sie hatte trotzdem keine Lust zu lesen. Sie war aufgeregt und versuchte, sich die Geburtstagsparty vorzustellen. „Nein danke“, sagte sie und der Fahrer schaltete das grelle Licht wieder aus.
Julia schaute aus dem Fenster. Wenige Minuten später sah sie das Ortsschild von Köln-Rath vorbeirauschen. „Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich überhaupt bin“, dachte sie fröstelnd. Ihr war nicht kalt, aber aufgrund der Aufregung ließ sie ihr Kreislauf ein wenig im Stich.
Die Fahrt ging viel zu schnell vorüber. Der Wagen rollte sanft über die Schwelle eines gusseisernen Tores, das sich scheinbar automatisch geöffnet hatte. Die Reifen knirschten über die Auffahrt aus kleinen, weißen Kieselsteinen, die Julia im Scheinwerferlicht glitzern sehen konnte.
Der Wagen hielt und noch bevor Julia überhaupt den Gurt abgenommen hatte, öffnete ihr der junge Fahrer bereits die Tür. Sie stieg aus und stand direkt vor einer eindrucksvollen Fassade eines fachmännisch restaurierten Herrenhauses aus dem 16. Jahrhundert.
Julia schnellte herum, aber sie hatte sich bloß erschreckt, weil der Fahrer den Wagen bereits wieder in Richtung Straße steuerte und dabei eine ordentliche Menge der kleinen Kieselsteine aufwirbelte. Sie stand plötzlich allein da. Na ja, nicht völlig allein. Ihr leisteten knapp ein dutzend andere Luxusautos Gesellschaft, die im Hof geparkt worden waren.
Die meisten Fenster des riesigen Hauses waren hell erleuchtet und auch der Vorplatz, auf dem sie gerade stand, war mit stilvollen Lampen ausgestattet, die ein warmes, gelbes Licht spendeten. Julia konnte links und rechts neben der Tür zwei große Steinbüsten erkennen, die offenbar Engel darstellen sollten. Ihnen fehlte der Kopf. Julia erinnerte sich, dass es früher so üblich war, dass bei diesen Kunstwerken bloß der Körper gemeißelt und der Kopf weggelassen wurde. Womöglich aus Kostengründen, überlegte sie.
Julia ging langsam auf die große Tür zu, als diese auch schon aufgerissen wurde. Ihr kam ein kicherndes Paar entgegen, das Julia gar nicht wahrnahm und sich trotz der Kälte eindeutig in Richtung der Büsche weiter links auf dem großen Grundstück verzog.
Julia trat ein und lehnte die Tür an, damit die zwei Turteltauben sicher wieder nach drinnen finden würden.
Sie hörte Musik von irgendwoher, aber sie konnte die Richtung nicht genau einordnen. Der Flur des Hauses war riesig. Es war ein altes Gebäude, man konnte es an den in die Jahre gekommenen Fliesen sehen. Dennoch war alles blitzblank und gut in Schuss, wie Julia feststellte.
Vor ihr führte eine breite Treppe in den oberen Stock, auf der linken Seite sah sie einen länglichen Flur, der an der Treppe vorbeiführte. Dort gab es mehrere Türen, die meisten waren geschlossen. Auf der rechten Seite war nur eine Tür geöffnet und Julia folgte ihrem Instinkt, indem sie auf eben diesen Durchgang zuging. Die Musik wurde lauter.
Das, was sie als nächstes sah, hätte sie beinahe umgehauen. Sie stand in einem weiteren engen Flur, der eine kleine Kurve machte und direkt in eine Art Ballsaal führte. Es war ein riesiger Raum. Julia kannte das bis dahin nur von Bildern und wusste gar nicht, wohin sie zuerst gucken sollte.
Sie trat ein und fand eine circa 100-köpfige Menschenmenge vor. Die Leute waren allesamt tadellos gekleidet und überdurchschnittlich gutaussehend. Julia erkannte auf den ersten Blick, dass es ungefähr 75 Prozent weibliche Gäste gab. So etwas hatte sie sich ja bereits denken können und sie fand es nicht weiter tragisch.
Sie hoffte allerdings, dass Alexej nicht gerade mit einem der vielen Topmodels im Schlafzimmer herumtollte.
(Julia wusste nicht, ob es sich wirklich um Topmodels handelte, aber sie fand, dass die meisten der relativ jungen Frauen so aussahen, als kämen sie entweder gerade vom Laufsteg oder von einem Fotoshooting.)
Der Saal war mindestens 30 Meter lang und ungefähr halb so breit. Auch hier
Weitere Kostenlose Bücher