Rasputins Tochter
nach Tradition und ist gleich seit unserer großen Katherina.“
Aber es war ein interessanter Teenachmittag. Verblüffend, dachte ich, als ich vorsichtig einen Keks nahm und meinen Platz fand. Man stelle sich vor, mein Vater gibt so viel Hilfe und Rat, so viele seiner Visionen an Kaiserin Aleksandra Fjordorowna, die alles dem Zaren weitergeben würde. Man stelle sich vor, Papa, der aus den Tiefen Sibiriens auftaucht und dem Mutterland zu Hilfe kommt. Unglaublich, dachte ich, und strahlte vor Stolz meinen Vater an, als er seinen Tee schlürfte und an einem Keks mampfte und die Krumen flogen.
K APITEL 8
Also, was sollte ich jetzt mit diesen Erinnerungen an meinen Vater, den Helden, tun? Sie verbrennen, sie einstampfen, sie in Stücke zerreißen?
Gequält vor Verwirrung floh ich aus dem Schrank und rannte in mein Zimmer, wo ich ins Bett sprang und in ein schwarzes Loch fiel. Als meine Schwester wissen wollte, was um alles auf der Welt los sei, schrie ich sie an zu verschwinden, und dann kamen meine Tränen so schnell, so schwer, dass, als ich endlich aufhörte zu weinen, meine Augen praktisch zugeschwollen waren. Ich lag einfach da, versteckt und unter der Daunensteppdecke gekuschelt, meine Arme und Hände um meine Knie geklammert. Aber ich konnte keinen Trost finden, egal wie fest ich mich selbst umarmte. Ich weinte und weinte einfach.
Viele in der höchsten Gesellschaft, einschließlich des Zaren und der Zarin selbst, klammerten sich an den Mythos des russischen Bauern, der glaubte, dass nur in den Hütten der Ärmsten der Armen der wahre Geist Christi gelebt wurde. Und doch wusste ich jetzt sogar, was der Zar nicht wusste, dass in meinem Bauernvater sowohl der Geist Christi als auch zumindest der Geist eines Narren verweilte - kein heiliger Narr, sondern ein simpler. Wir sollten die Hauptstadt verlassen. Zu seinem eigenen Schutz, nicht zu erwähnen unseren, sollte ich Papa aus der Stadt hinauszwingen. Er sollte jede Vorgabe der Heiligkeit aufgeben und einfach in Sibirien und seiner endlosen Wälder verschwinden. Ein Leben von Fasten und Visionen und zerlumpter Kleidung - das war, was für meinen Vater bestimmt war.
Meinen Kopf unter meinem Polster vergraben, meinen Körper durch die gebauschten Federn der Steppdecke geschützt, lag ich stundenlang zusammengerollt, trieb in und aus dem Elend und Schlaf. Schließlich gegen sechs hörte ich Dunja, die uns alle zu Tisch rief, denn wie alle russische Frauen glaubte sie an die Heiligkeit, zum Essen zusammenzukommen. Als ich aufstand, machte ich einen schwachen Versuch, mein Haar zu bürsten und ging zum Esszimmer.
Dunja und Warja waren offensichtlich beschäftigt gewesen. Unser Messingsamowar, poliert, bis er wie Gold glühte und mit Wasser kochte, stand beim Fenster, und unser schwerer Esstisch, die Art, die unter der Stadt-Bourgeoisie beliebt war, war mit Tellern mit kaltem zakuski bedeckt: eingelegte Gurken, saure Sahne, gesalzener Hering mit Zwiebeln belegt, geriebene Karotten mit Majonäse und Knoblauch vermischt, gesalzene Tomaten, eingemachte Pilze, geräucherter Fisch, gefüllte Eier und Papas Lieblingsappetitanreger, Fischköpfe in Aspik. Heute Abend war es offenkundig, dass wir nicht an ausgefallenen Stadtdingen, sondern echtem Essen schmausen würden.
„Mädchen, bitte nehmt eure Plätze ein, während ich euren Vater hole“, sagte Dunja.
Als sie davoneilte, standen wir beide hinter unseren Stühlen und meine Schwester sah mich an, wobei sie mich leise fragte: „Geht es dir gut, Maria? Warum warst du so verärgert?“
„Nichts“, murmelte ich.
Ich starrte Warja an, die so stolz war, in der Mittelschule hier in der Hauptstadt zu studieren, dass sie sogar jetzt das schwarze und weiße Kleid des Gymnasiums trug. Sie hatte das stumpfe Kinn meines Vaters, sein dunkles Haar, seine großen vollen Lippen und kurze schwarze Stirnfransen, die sie zurückgeschnipst trug. Sie betete Papa an, und für sie war es überhaupt nicht ungewöhnlich, dass unser demütiger Vater ein- oder zweimal am Tag von der Kaiserin selbst angerufen werden sollte, ganz zu schweigen, jederzeit in den Palast gerufen zu werden.
„Was passierte heute Nachmittag?“, fragte sie nicht besonders beunruhigt, als sie etwas Karottensalat mit ihren Fingern hochhob. „Ich hörte eine Frau schreien.“
Ich zuckte die Achseln. „Du weißt, wie die Leute immer hinter Papa um Dinge her sind.“
Zum ersten Mal fürchtete ich eine Familienmahlzeit. Was sollte ich zu meinem Vater sagen?
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