Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
ankam,
rief er niemanden mehr an. Die Grippe forderte ihren Tribut. Ob ein volles Glas
Whiskey in solchen Fällen eine Erfolg versprechende Therapie darstellt, sei dahingestellt.
Martin jedoch empfand es als die geeignete Medizin für das Chaos in seinem Kopf.
Er machte sich ein Salamibrot und verschwand gleich danach in seinem Bett. Er streckte
sich aus und löschte das Licht. Dunkelheit. Willkommene, gesegnete Dunkelheit, die
den Boden für die Ordnung schuf. Die Muskeln zuckten ungestüm während der Einschlafphase,
und Bilder unbekannter Menschen huschten unter seinen Lidern wie aufgeschreckte
Fledermäuse vorbei.
Der Tiefschlaf
ließ nicht lange auf sich warten, sodass er von der Außenwelt abgeschottet war.
Jener Welt, die er mit seinen Sinnen hätte wahrnehmen können, wenn er nicht so viel
getrunken hätte. Er schlief so fest, dass er nicht hörte, wie von außen seine Wohnungstür
geöffnet wurde. Leise und professionell wurden Sicherheitsschlösser geknackt, und
ein Mann von stattlicher Größe mit einem billigen, nach Sandelholz riechenden Rasierwasser
schlich wissend wie eine Raubkatze durch die Wohnung. Sie fand leichte Beute vor.
Der nächtliche Besucher hatte keine Eile. Ohne anzuecken oder eine Lampe umzustoßen,
bewegte er sich durch die Wohnung, als wäre es seine eigene. Die dunklen, hasserfüllten
Augen profitierten vom hellen Vollmondlicht, das durch die Dachfenster fiel, und
die Finger griffen die Waffe in dem Bedürfnis nach mehr Sicherheit ein wenig fester.
Der Einbrecher war nervös, doch es störte ihn nicht. Es belebte und erregte ihn
zum wiederholten Male, sich in der Wohnung eines Polizeibeamten zu bewegen. Das
Adrenalin sprudelte durch seine Venen, entsprungen einem Quell der Niedertracht
und Bosheit.
Die Tür
zum Schlafzimmer war angelehnt. Er ging hinein. Dort lag der angeblich beste Bulle
der Stadt, zusammengekauert wie ein übergroßer, zotteliger Embryo, schutzlos wie
ein Vogelkind, dessen Mutter auf Nahrungssuche ist. Er bot dem nächtlichen Besucher
eine breite Angriffsfläche, und ihn zu töten, sollte ein Leichtes sein. Der Mann
beugte sich zu Martin herab und spürte den rasselnden Atem, der sich durch die entzündeten
Bronchien quälte. Er roch feine Essenzen schottischen Malts, die aus dem Inneren
aufstiegen. Die linke Hand des Besuchers griff in die Richtung des Halses, in dem
man das Blut in der seitlichen Schlagader pulsieren sah. Seine Hand glitt in die
Tasche, um etwas hervorzuholen.
Er griff
nach etwas Weißem, Weichen. Er näherte sich dem Opfer und berührte ihn mit dem Gegenstand
an der Stirn. Dieses Etwas galt als der Inbegriff des Friedens, den er aus der Tasche
gezogen hatte. Er schob damit eine kleine Locke vorsichtig aus Martins Stirn. Nachdem
der Schlafende auch dies nicht fühlte und auch sonst nichts von der Lebensbedrohung
mitbekam, bestand für den Besucher kein Zweifel mehr. Er würde nichts spüren, nicht
einmal den Übergang vom Leben zum Tod bemerken. Er würde gleich von einem Raum in
den nächsten gehen, ohne realisiert zu haben, wer ihm die eine Tür geöffnet und
die andere hinter ihm geschlossen hatte.
Der nächtliche Besucher hätte in
diesem Moment alles mit ihm machen können: ihn mit einem Kissen ersticken, ihn erstechen,
ihm die halbleere Flasche Whiskey, die auf dem Nachttisch stand, über den Schädel
schlagen oder seine eigene Waffe benutzen können, doch er tat nichts dergleichen.
Ihm genügte einstweilen die Erkenntnis, dass er es hätte tun können. Dies auszukosten,
war dem Einbrecher eine tiefe Genugtuung. Töten konnte er ihn immer noch, jederzeit,
auch jetzt, wenn er aufwachen und ihn erkennen würde, doch zunächst reichte es aus,
alle neuen Erkenntnisse auszulöschen und eine Aufklärung der Mordserie zu sabotieren.
Zufrieden verließ der Mann das Schlafzimmer so leise, wie er gekommen war, und griff
nach dem Stapel ausgedruckter Papiere, die wie für ihn bereitgelegt waren. Dann
verschwand er aus der Wohnung, ohne einen Hauch menschlicher genetischer Spuren
zu hinterlassen. Selbst das Schließen der Wohnungstür geschah lautlos.
*
Am nächsten Morgen gegen sieben
Uhr fühlte sich Martin ausgeruht und gestärkt, mit Sicherheit zum Erstaunen jedes
Mediziners, dem er von seiner ›Therapie‹ erzählt hätte. Whiskey-induziertes Koma
zur Linderung aller erkältungsbedingten Symptome . So würde Martin die Wirkungsweise
auf einem Beipackzettel beschreiben. Er streckte sich und gähnte ausgiebig. Er bemerkte
den rauen
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