Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
auf. Die Nummer war ihm unbekannt, aber er betätigte
die Freisprecheinrichtung.
»Pohlmann.«
»Kassner
hier. Herr Kommissar, ich sitze hier noch an meinem Schreibtisch. Wissen Sie noch,
als Sie zu mir kamen? Ich habe da gerade an einer Liste gearbeitet.«
»Aber ja.
Ich erinnere mich. Was kann ich für Sie tun?«
»Na ja,
diese Listen sind kompliziert. Man wird dabei nicht gern gestört, weil man sich
konzentrieren muss.«
»Es tut
mir leid, dass ich Sie so angeblafft habe«, unterbrach er sie.
»Nein, das
meine ich nicht. Ich habe mich, nachdem Sie weg waren, wieder an diese Liste gesetzt
und da ist mir ein Name untergekommen, über den wir beide gesprochen haben.«
»Ja. Und
der wäre?«
»Ich habe
den Namen von Hans Keller gefunden.«
»Von Professor
Keller, dem Psychiater?«
»Genau dem.
Ich bin einigen Querverweisen gefolgt und fand heraus, dass Hans Keller nicht immer
so hieß.«
»Einen Augenblick,
bitte.« Martin parkte den Wagen auf einem Parkplatz und stellte den Motor ab. »Was
sagen Sie da? Wie hieß er denn? Hat er auch eine neue Identität erhalten? Aber wieso?«
In dem Moment, wo er es aussprach, dämmerte es ihm. Und noch bevor Ingeborg den
Namen nannte, wusste er, dass sein alter Spürsinn erwacht war.
*
»Er hat mit sechs Jahren den Namen
Hans von seinen Pflegeeltern bekommen. Davor hieß er Siegfried. Und zwar …«, Ingeborg
machte eine spannungsgeladene Pause, »er hieß … Siegfried Strocka. Ich dachte, es
sei wichtig, dass Sie das wissen.«
»Wahnsinn!«,
stammelte Martin. »Und ob das wichtig ist. Können Sie mir das zufaxen oder
mailen?«
»Zufaxen
ist okay. Ist das die Nummer auf der Visitenkarte?«
»Ja, ich
denke schon. Vielen Dank noch mal.«
Nachdem
er aufgelegt hatte, wurde ihm klar, auf wessen Schreibtisch dieses Fax landen würde,
und es wurde ihm auch klar, dass es in falsche Hände gelangen würde.
Die Fahrt
zurück nach Hamburg verlief wie in einem tranceähnlichen Zustand. Gas geben – bremsen
– nachdenken. Die Automatismen eines langjährigen Fahrers, noch dazu in einem äußerst
eleganten Wagen, der einem beinahe das Fahren komplett abnahm. Das Bundesarchiv
hatte sich als wahre Fundgrube erwiesen, und die Nachricht, die wenige Minuten zuvor
eingetrudelt war, musste verdaut und eingeordnet werden: Professor Hans Keller war
der leibliche Sohn von Gerhard Strocka und damit der Bruder von Hedwig Strocka alias
Emilie Braun.
Wow. Martin
war baff.
Keller war,
wie seine Patientin Emilie, ein Zögling des Lebensbornheimes Steinhöring gewesen,
ein Zuchterfolg für den Führer, der Sohn eines Nazis und Verbrechers. So weit die
Fakten. Fragen rasten durch Martins Kopf, während die Augen rhythmisch die blitzenden
Reflektoren an den Leitplanken wahrnahmen. Wegweiser für die wirren Gedanken, die
einer Klärung bedurften. Wenn Hans Keller der Sohn von Gerhard Strocka war, musste
man davon ausgehen, dass er um seine Identität wusste. Doch wann hatte er es herausgefunden?
Bevor er seinen Vater umgebracht hatte oder danach? Was war in dieser Nacht in dem
Hotel wirklich geschehen? Hatte ein Sohn seinem Vater, vor lauter Wut auf ein gestohlenes
Leben, eingebettet in eine unehrenhafte Identität, den Schädel zertrümmert, bis
die höhnischen Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen waren? Wollte er jegliche Ähnlichkeit
mit seinem eigenen Antlitz ein für alle Mal auslöschen? Und – wer war seine Mutter?
Dieselbe wie von Emilie – dann wären sie echte Geschwister gewesen? Dies war unmöglich,
Emilie und Keller waren im selben Monat des Jahres 1940 geboren worden.
Martin rieb
sich die müden Augen und sehnte sich nach der Erfüllung einiger unbedeutender Wünsche:
einem doppelten oder gern auch dreifachen Whiskey und gleich im Anschluss daran
einen tiefen, nicht enden wollenden, ihn gesund machenden Schlaf. Wie realistisch
die zügige Befriedigung seiner Wünsche einzuschätzen war, wusste Martin genau. Er
würde gegen 22 Uhr zu Hause ankommen und sich als Erstes auf die ausgedruckten Unterlagen
stürzen, die Frau Kassner ihm besorgt hatte. Der Verkehr und die Glätte erforderten
seine volle Aufmerksamkeit, sodass er sich das Gespräch mit Werner für später aufhob.
Er musste noch mit ihm einen Schlachtplan für die nächsten Tage zurechtlegen, und
vor allem brannte er darauf, von ihm den Namen zu erfahren, den er ihm Stunden zuvor
mitteilen wollte, bevor die Verbindung abbrach.
Kapitel 34
Hamburg, 9. November 2010
Als Martin in seiner Wohnung
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