Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
fühlte sich eigenartig benommen. Ihm war, als müsse er sich bei irgendjemandem
bedanken, als stünde er in der gnädigen Schuld eines anderen, weil er noch am Leben
war. Etwa bei dem Einbrecher, dass er sein Schloss geknackt hatte, in seiner Wohnung
wie selbstverständlich herumstolziert war und Akten geklaut hatte? Dieser Gedanke
erschien ihm absurd, doch Dank empfand er dennoch. Doch wem gegenüber? Dem anonymen
Schicksal gegenüber? Vielleicht einem Gott, an den er nicht glaubte? Gab es Engel,
die um ihn waren und ihn bewachten? Bilder von keramischen und aus Stoff gebastelten
Putten mit verrenkten Hälsen und glasigem Blick, die von seiner Mutter kurz vor
Weihnachten hervorgekramt wurden und nach Silvester wieder im Schrank verschwanden,
drängten sich ihm auf.
Obwohl er
es nicht zulassen wollte, stieg eine unangenehme Woge schmerzvoller Gedanken in
ihm auf. Er erinnerte sich an Zeiten, in denen es ihm egal gewesen wäre, nicht mehr
zu leben. An manchen Tagen, direkt nach dem Unfall seiner Verlobten, hatte er sich
den Tod herbeigewünscht, ein Ende der Schmerzen ersehnt, der inneren Qualen und
Vorwürfe. Die Zweifel, die ihn damals umtrieben, standen ihm lebendig vor Augen.
Wo waren zu jener Zeit die bewahrenden Kräfte, wenn es sie denn wirklich gab? Wo
die fürsorglichen und schützenden Hände eines Gottes, der die Macht hätte, es zu
verhindern, hätte er denn gewollt und würde es ihn denn geben?
Martins
Gedanken drehten sich um Fragen, wie: Warum stirbt der eine und der andere nicht?
Warum jetzt und nicht erst später? Wer entscheidet über Leben und Tod? Wer bedient
sich des einen oder anderen der vielfältig vorhandenen Werkzeuge, um menschliches
Leben zu beenden?
Nach einer
furchtbaren Woche des gedankenschweren Kampfes, der Anklagen und der Selbstvorwürfe
entschied er damals, am Leben zu bleiben, sich einer Therapie zu unterziehen und
sich helfen zu lassen, doch er zog auch die Konsequenzen, indem er fortging. Er
hielt es für eine gute Lösung, einen Orts- und Arbeitswechsel vorzunehmen. Nun,
nach der gestrigen Nacht, in der man ihn hätte töten können, empfand er, so paradox
es ihm erschien, tiefe Freude; er wollte leben – das war ihm klar –, er wollte atmen,
hüpfen und springen und es jedem sagen, dass es schön sei zu leben. Er dachte an
Emilie, die viele Versuche unternommen hatte, diese Welt zu verlassen, weil sie
nicht wusste, was das Leben alles bereithalten konnte, was sich hinter dem Begriff
des Lebendigseins alles verbarg. Plötzlich bekam nicht nur Martins Körper neue Kraft,
sondern vor allem seine Seele. Er stand von seinem Sessel auf und wusste, was er
zu tun hatte. Er würde es schnell tun müssen, wer weiß, wie lange man ihm noch die
Zeit ließ für das, was seiner Ansicht nach dringend zu erledigen war.
Kapitel 35
Hamburg, 10. November 2010
Bevor Martin das Haus verließ, wählte
er die Nummer von Ingeborg Kassner. Es klingelte zwei Mal, bevor sich ihre ihm vertraute
Stimme meldete.
»Bundesarchiv
Berlin, mein Name ist Kassner. Was kann ich für Sie tun?«
»Pohlmann.
Hallo, Frau Kassner. Sie erinnern sich bestimmt an mich? Ich bin der Bulle, der
Ihnen gestern den ganzen Tag auf den Wecker gegangen ist.«
»Aber nein«,
unterbrach sie ihn. »Sie sind mir nicht auf die Nerven gegangen. Ganz bestimmt nicht.«
»Es tut
mir leid, dass ich Sie noch einmal um Ihre Hilfe bitten muss, aber ich benötige
exakt dieselben Ausdrucke von gestern noch einmal. Sie sind mir in der Nacht – nun
sagen wir mal, abhanden gekommen.«
Ingeborg
dachte kurz nach. »Ich habe alles auf dem Desktop abgespeichert. Ich dachte mir,
wer weiß, wofür es gut sein könnte, sie noch eine Weile griffbereit zu haben, und
siehe da …«
»Das haben
Sie gut gemacht, Frau Kassner. Ich brauche die Unterlagen so schnell wie möglich.«
Eine kleine Pause entstand. Ingeborg reagierte nicht sofort. Dann vermutete sie,
was geschehen war. »Sie sind gestohlen worden, habe ich recht?«
»Stimmt.
An Ihnen ist echt eine Kriminalbeamtin verloren gegangen.«
Ingeborg
lachte. »Das liegt an den Romanen, die ich lese, wissen Sie. Ich lese so viele Krimis,
dass ich manchmal schon nicht mehr weiß, was real und was erfunden ist. Bis wann
brauchen Sie die Unterlagen?«
»Können
Sie die Akten per Express verschicken?«
»Das ließe
sich machen. An die Adresse auf Ihrer Karte?« Martin dachte einen Wimpernschlag
lang nach.
»Nein, ich
gebe Ihnen eine neue Adresse.« Martin gab Frau Kassner die Adresse
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