Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
zu?«
»Ja, sicher.
Sie sagten: und die hier …«
»Sie täten
gut daran, mir aufmerksam zuzuhören. Diese gelben hier sind für einen dissoziativen
Anfall. Wir wissen noch nicht genau, wann sie den bekommt. Diese Art Anfälle sind
die Folge gravierender Traumata in der Vergangenheit. Vermeiden Sie es, sie aufzuregen
oder sie unnötigem Stress zu unterziehen. Die Folgen könnten verheerend sein.«
Martin nickte
ernst.
Der Arzt
zeigte mit dem Finger auf eine letzte Pille. »Diese hier ist zur allgemeinen Beruhigung.
Die geben Sie ihr nur nach Bedarf.«
»Oh, das
ist gut. Darf ich die auch nehmen?«, scherzte Martin, doch an der Reaktion von Dr.
Schillig und Annegret merkte er, dass sie nicht in der Stimmung für Witze waren.
»Keine Sorge,
ich krieg das hin. Ganz sicher.«
Martin wandte
sich an Emilie. »Nicht, Emilie? Wir schaffen das schon, oder?«
Emilie antwortete
nicht.
Zwischenzeitlich
hatten sich noch andere Patienten eingefunden, für die die Situation spektakulärer
war als alles, was sie auf der Station sonst erlebten. Emmi drehte sich im Kreis
zu ihren Freunden um und sah sie einzeln an. Sie sagte nichts, es war nicht nötig
zu sprechen. Dafür kannten sie sich schon zu lange. Schließlich wandte sie sich
mit ihrem Koffer zu Martin um und nahm zu seiner Verwunderung seine Hand. »Gehen
wir?« Martin schnitt eine Grimasse, die sein Erstaunen zum Ausdruck brachte, und
sah auf seine Hand hinab. Er hielt es für das Beste, den Dingen ihren Lauf zu lassen,
und entzog sich ihrer Hand nicht.
*
Es musste ein sonderbares Bild gewesen
sein, als Martin mit Emilie die Station verließ. Ein Tross von Patienten schlurfte
hinter ihnen her, bis zu jenen Türen, durch die nur Emilie und Martin durften. Die
Herde verblieb wie in einem Gatter zurück. Wie Sträflinge im Zuchthaus krallten
sie ihre Hände um die Gitterstäbe und sahen den beiden mit Wehmut nach, bis sie
aus ihrem Blickfeld verschwunden waren.
Verschwunden
durch alle Sicherheitsschranken und Türen, vorbei an dem Pförtner, der sich wie
üblich aus seinem Häuschen lehnte, die einzige körperliche Betätigung, die er verrichtete.
Kapitel 44
Hamburg, 11. November 2010
Es war anzunehmen, dass sich Martin
Pohlmann nicht vollständig darüber im Klaren war, was er tat, als er Emilie Braun,
die seit vielen Jahren die Mauern der geschlossenen Anstalt nicht verlassen hatte,
in den schicken BMW von Klaus Schöller setzte. Einen Wagen mit 220 PS und 2,5 Liter
Hubraum. Nicht dass seinem Fahrgast diese Details wichtig gewesen wären. Wie den
meisten Frauen, erschienen ihr diese Zahlen belanglos, doch der enorme Schub, der
beim Anfahren erzeugt wurde, war durchaus für sie interessant. Das letzte Mal, als
sie in einem Automobil saß, hätte sie es beim Anfahren zu Fuß überholen können.
Sie blies ihre Wangen auf, hielt die Luft an, stützte sich am Armaturenbrett ab
und stemmte die Füße gegen den Boden, als könne sie damit den Wagen verlangsamen.
In den ersten
Sekunden der Fahrt dachte Martin darüber nach, was er da angestellt hatte. Eigentlich
wusste er noch gar nichts. Weder, wie er den Tag nach nur drei Stunden Schlaf überstehen
würde, noch, womit er ihn in Begleitung einer 70-jährigen, möglicherweise leicht
verwirrten ›Dame‹ verbringen und auch nicht, wie er zeitgleich seine Arbeit erledigen
sollte, die darin bestand, einen Serienmörder ausfindig und dingfest zu machen.
Bereits nach fünf Minuten Fahrt Richtung Hamburg-Mitte kamen ihm die ersten Zweifel.
Die Worte von Dr. Schillig hallten mahnend in seinem Kopf nach.
Wie zu erwarten
war, verhielt sich Emilie Braun schweigsam. Nach der ersten Überraschung bezüglich
moderner Beschleunigungswerte lernte sie schnell, sich wieder zu entspannen. Danach
hatte sie genug damit zu tun, die Eindrücke, die auf sie einwirkten, zu verarbeiten.
35 Jahre, in denen sie sich vor der Welt verborgen gehalten hatte, waren eine verdammt
lange Zeit, wenn es darum ging, moderne Technik zu begreifen. Vor 35 Jahren schlummerten
die Zeichnungen und Skizzen der ersten Personal Computer, die noch groß wie ein
Kleiderschrank sein sollten, in den Schubladen pfiffiger Ingenieure. Schnurlose
Telefone waren schwer wie Hanteln, und zum Fernseher musste man sich mühsam hinbewegen,
weil der Senderwechsel noch nicht von Funkwellen erledigt wurde. Allein das Interieur
des BMWs mit den vielen Zahlen und blinkenden LED-Lämpchen erregte Emmis Aufmerksamkeit.
Spätestens, wenn das Navigationsgerät anfangen
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