Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Martin mit einem
skeptischen Blick, doch er ging nicht weiter darauf ein.
»Ich brauche
seine Privatadresse.«
»Ich glaube
nicht, dass ich Ihnen die geben darf.«
Martin sah
sie mit strengem Blick an. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Ich führe Ermittlungen
durch und habe an Herrn Dräger ein paar Fragen. Natürlich werden Sie mir seine Adresse
geben. Anderenfalls …«
»Anderenfalls
verhaften Sie mich.«
»Quatsch.
Anderenfalls kriege ich die Adresse auch so raus. Einwohnermeldeamt, Polizeiregister
et cetera. Es würde nur etwas länger dauern.«
»Am Melhorn
16, am Ortsrand von Scharmbeck.«
»Oh, das
ging aber jetzt schnell. Haben Sie alle Adressen Ihrer Kollegen so gut im Kopf?«
Die Frage
blieb unbeantwortet.
Dann standen
sie vor dem Zimmer von Emilie Braun. Annegret, Dr. Schillig und Martin Pohlmann
betraten es nacheinander.
Emilie trug
einen hellblauen Morgenmantel und ihre alten, ausgelatschten Puschen. Wie es zu
erwarten war, saß sie im Schneidersitz auf dem Boden, an eine Wand gelehnt, und
war von einigen Türmen ihrer Lieblingsschriftsteller umgeben. Als die drei eintraten,
wippte sie mit ihrem Körper wie zu einer sanften Melodie, doch da keine Musik zu
hören war, erahnte Martin, dass sie dem Klang der Worte lauschte, die aus dem Buch
zu ihr sprachen. Aneinandergereihte Worte sind wie Musik, hatte sie bei ihrem letzten
Gespräch zu ihm gesagt. Mal laut, mal leise, mal sind es Streicher, mal Trompeten
– je nachdem, wie es der Autor in seinem Inneren gehört hat, von einem ganzen Orchester
vorgetragen.Nun schien sie wie einer Klaviersonate dem zarten Klang von
Worten zu lauschen.
»Hallo,
Emmi«, begann Annegret und blieb aufrecht vor ihr stehen. Die Schwester wirkte in
diesem Moment eigenartig kühl und reserviert. »Emilie, Kommissar Pohlmann ist hier.
Er möchte mit Ihnen einen Ausflug machen.« Pohlmann ging derweil zu ihrem Schrank.
Ein alter Lederkoffer lag obenauf, und als er ihn herunterholte, fiel Staub wie
Schneeflocken zu Boden. Er öffnete den Lederriemen, der um den Koffer geschlungen
war, und ließ die beiden Schlösser links und rechts aufschnappen. Er erinnerte sich
daran, dass seine Mutter einen ähnlichen Koffer besaß, doch nun hatte er keine Zeit
für melancholische Ausflüge in die Vergangenheit. In der Zwischenzeit hatte sich
Emilie Braun vom Boden erhoben. Sie wirkte trotz ihres Alters in diesem Mantel wie
ein Kind und auch dann noch, als sie Martin Pohlmann mit strahlendem Blick ansah.
»Wirklich?«,
fragte sie aufgeregt. »Wir machen einen Ausflug?«
Martin trat
einen Schritt vor und sah sie an. Sie war gut zwei Köpfe kleiner als er. »Na, mal
sehen. Wir finden schon einen Ort, an dem Sie noch nicht waren.« Ohne eine Spur
des Zweifels, ob es richtig sei, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen, begann sie
sich auszuziehen. Sie faltete den Morgenmantel zusammen und legte ihn in den alten
Koffer. Dann zog sie die Hausschuhe aus und stopfte sie daneben. Als sie Anstalten
machte, sich das Nachthemd abzustreifen, drehte sich Martin um und verließ das Zimmer.
»Ich warte dann draußen. Denken Sie an die Pillen und das ganze Zeugs.«
Nach zehn
Minuten kam Emilie Braun in Begleitung von Annegret und Dr. Schillig heraus. Sie
trug einen braunen Kamelhaarmantel, der gut 50 Jahre alt sein mochte, und schwarze,
feste Wildlederschuhe mit einem unechten Pelzbesatz am oberen Rand. Unter dem Mantel
schaute ein dunkelgrüner Wollrock hervor. Alles in allem nicht die Mode des 21.
Jahrhunderts. In der rechten Hand hielt sie ihren hellbraunen Lederkoffer, und sie
schien nicht im Geringsten traurig zu sein, die Station zu verlassen. Sie teilte
die Bedenken des Arztes und der Schwester offensichtlich nicht.
Sie kamen
an der Medikamentenausgabe vorbei. Dr. Schillig ging hinein. Konzentriert sortierte
er all jene Medikamente, mit denen Emilie regelmäßig gefüttert wurde: Antidepressiva,
Neuroleptika, Schlaftabletten, Muskelrelaxantien et cetera. Alle blauen und roten
Pillen waren in sieben kleinen, aneinandergereihten Schächtelchen verstaut, die
mit einem durchsichtigen Deckel verschlossen waren.
»Also«,
begann Dr. Schillig. »Die hier bekommt sie morgens um sieben und die hier am Abend,
weil sie nicht einschlafen kann. Und die hier sind nur für den Notfall. Wenn sie
hysterisch wird und rumschreit, geben Sie ihr zwei davon auf einmal. Davon wird
sie binnen sehr kurzer Zeit ruhig. Und diese hier …«, Pohlmann blickte an Schillig
vorbei, »hören Sie mir überhaupt
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