Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Schillig knöpfte sich den weißen Kittel bis zum obersten
Knopf zu, als wolle er sich darin vor der Verantwortung verbergen. Langsam ging
er voran und hoffte, Pohlmann würde es sich noch einmal anders überlegen. Auf dem
Gang kam ihnen Annegret Kaschewitz entgegen.
»Guten Morgen,
Doktor, oh, hallo, Herr Kommissar.«
»Hallo,
Annegret!«
»Frau Kaschewitz,
bitte packen Sie Frau Braun für einige Tage ein paar Sachen zusammen. Sie wird …
nun ja, sagen wir mal … verlegt.« Annegret sah Dr. Schillig entgeistert an. Seit
beinahe 40 Jahren lebte Emilie in dieser Anstalt – und jetzt sollte sie verlegt
werden? Das konnte nur ein schlechter Scherz sein.
»Wohin?
Wieso?«
»Der Kommissar
nimmt sie mit. Sie erhält so etwas wie Polizeischutz, weil man glaubt, dass sie
hier in Gefahr sei.« Schillig ließ deutlich erkennen, dass er diese Idee für idiotisch
hielt. Der sarkastische Ton in seiner Stimme war kaum zu überhören, doch er fügte
sich der Staatsmacht.
»Stimmt
das?«, richtete sich Annegret entrüstet an Martin.
»Ja, ich
nehme sie mit. Es kann kein Beamter für ihren Schutz auf dieser Station freigestellt
werden, also nehm ich sie mit.«
»Und wenn
sie nicht will?«, gab Annegret zu bedenken. Tatsächlich hatte Martin diese Option
noch gar nicht in Erwägung gezogen. Doch dann legte er ein breites Lächeln auf.
»Dann werden Sie beide sie davon überzeugen. Auf Sie wird sie hören.«
Annegret
errötete, jedoch nicht vor Scham. Sie wandte sich an Dr. Schillig. »Haben Sie ihm
gesagt, dass das nicht geht? Sie kann nicht einfach so verlegt werden. Sie hat hier
ihre gewohnte Umgebung, ihr Zimmer und ihre Bücher.«
»Die hat
sie bei mir auch.«
»Sie wollen
sie zu sich nach Hause nehmen?« Die Schwester redete sich in Rage, und Schillig
hielt sie nicht auf. Im Gegenteil, er war froh, in ihr eine Verbündete zu haben,
obgleich sie andere Beweggründe hatte als Schillig.
Martin wurde
bewusst, dass er soeben die notwendige Geheimhaltung verletzt hatte. Drei Stunden
Schlaf machten ihn unkonzentriert. Außerdem konnte er nicht davon ausgehen, dass
man Schillig ohne Weiteres trauen konnte, und auch Annegret kannte er noch nicht
lange genug, um ihr erzählen zu dürfen, dass er Emmi mit nach Eimsbüttel nehmen
wollte. Schnell versuchte er, den Fehler geradezubiegen.
»Das hab
ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass Sie mit mir kommt. Wo wir sie schließlich
unterbringen, wird sich noch zeigen. Das unterliegt der Geheimhaltung.«
»Sie wissen
doch gar nicht, wie man mit Pflegebedürftigen umgeht. Was werden Sie tun, wenn sie
einen Anfall bekommt?«
»Wir haben
gute Psychologen bei der Polizei. Oder ich rufe Sie an, ganz einfach. Packen
Sie mir alle Medikamente ein, die sie braucht, und dann wird sie mit mir kommen.
Außerdem – soweit ich das einschätze, kann sie hier gar nicht so furchtbar glücklich
sein, wie Sie es gern darstellen. Immerhin hat sie schon diverse Male versucht,
sich umzubringen.«
»Glücklich
oder unglücklich«, entgegnete Schillig. »Das sind Begriffe, die es hier nicht gibt.
Hier zählt nur gesund oder krank, und die meisten hier sind nun mal krank.«
»Das wäre
ich auch, wenn ich hier leben müsste.«
»Die Menschen
kommen schon krank hierher, sie werden hier nicht krank. Wir versuchen, sie
gesund zu machen, Herr Kommissar.«
Pohlmann,
dem die Diskussion allmählich auf die Nerven ging, hob beschwichtigend die Hände.
»Ich verspreche Ihnen, dass ich sie wohlbehalten wieder zurückbringe. Sobald wir
den Mörder gefasst haben, ist sie wieder da.«
Schillig
stöhnte. »Wollen wir es hoffen. In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken, wenn etwas
schiefgeht.«
»Ich möchte
in Ihrer auch nicht stecken, Dr. Schillig.« Martin umfing mit einer ausladenden
Geste die gesamte geschlossene Abteilung. »Ganz sicher nicht. So, und jetzt lassen
Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Ich muss arbeiten.« Martin wandte sich um, doch
dann fiel ihm noch etwas ein, das er Annegret fragen wollte. »Kann ich vorher noch
mit dem Pfleger sprechen, diesem Dräger?«
»Lars?«
Annegret hob die Brauen. »Der hat ab heute Urlaub. Die ganze Woche. Wieso?«
Martin blickte
in die Ferne und dachte nach. »Ach, nur so. Ist nicht weiter wichtig.«
Nach einer
Weile, während sie auf dem Flur in Richtung von Emilie Brauns Zimmer gingen, stellte
er eine scheinbar belanglose Frage. »Wissen Sie, ob Dräger Tauben züchtet?«
Annegret
lachte kurz auf. »Tauben? Nee, nicht dass ich wüsste.« Sie bedachte
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