Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Boden war ihr eben nicht nur als Trittfläche, sondern ebenso als Sitzfläche
und auch als Lagerfläche für diverse Gegenstände vertraut. Warum also nicht auch
für Geschirr?
Martin stellte
sich hinter sie und wollte ihr den Mantel abnehmen. Als er sie berührte, wich sie
entschieden zurück, doch sie schien zu verstehen, was er von ihr wollte, und zog
langsam den Mantel aus. Sie gab ihn Martin, der ihn an die Garderobe hängte. Von
Weitem sah sie ihm zu und lernte. In kurzer Zeit räumte Martin im Wohnzimmer die
Ordner beiseite, drapierte die Kissen auf Sessel und Sofa, schlug, wie er es bei
Sabine des Öfteren gesehen hatte, mit der Handkante eine Delle hinein und schaffte
es, ein halbwegs gemütliches Ambiente herzustellen. Zumindest nach seinem Maßstab.
Den von Emilie musste er erst kennenlernen, wenn es überhaupt in ihrem Kopf Begriffe
wie Gemütlichkeit und Behaglichkeit gab.
»Bitte«,
sagte er und wies ihr den freien Sessel zu. »Setzen Sie sich doch. Ich mache uns
inzwischen einen Kaffee. Trinken Sie Kaffee?« Emilie antwortete nicht und sah sich
im Raum um. Ein leises, genervtes Stöhnen entwich Martin und er machte sich auf
den Weg in die Küche.
Während
er das schmutzige Geschirr der vergangenen Woche spülte, überlegte er, ob er die
Balkontür abgeschlossen hatte. Nein, hatte er nicht, und der Schlüssel steckte.
Was, wenn sie sich hinunterstürzen würde? Hoch genug zum Sterben wäre es allemal.
Sie könnte auf einen der beiden verwitterten Gartenstühle steigen und hinunterspringen.
Sie könnte aber auch noch andere Dummheiten anstellen: mit dem Feuerzeug, das auf
dem Tisch lag, die Wohnung oder sich selbst in Brand stecken. Oder einfach durch
die Tür aus der Wohnung verschwinden. War die Eingangstür verriegelt gewesen? Nein,
war sie nicht. Martin trocknete sich die Hände ab und ging in den Flur. Er drehte
den Schlüssel drei Mal um, zog ihn ab und steckte ihn sich in die Tasche. Als er
am Wohnzimmer vorbeikam, schob er seinen Kopf zwischen den Zargen hindurch und spähte
hinein. Sie saß in keinem der Sessel, auch nicht auf dem Sofa, das registrierte
er schnell. Sie tat, was sie immer tat und womit er eigentlich hätte rechnen müssen.
Kapitel 45
Hamburg-Eimsbüttel, 11. November
2010
Emilie Braun saß in Martins Wohnzimmer
auf dem Teppichboden und lehnte sich an die Wand. Sie hatte einige Bücher neben
sich gelegt. Martins Sammlung war sicher nicht so stattlich wie die Anstaltsbibliothek.
Aber an die 400 bis 500 Bücher mochten es auch sein, die in den Regalen verstaubten.
In erster Linie Belletristik. Unterhaltungsromane aller Art, viele noch von Sabine.
Ein paar Klassiker waren auch dabei. Mit dem Spültuch in der Hand, fand er sie dort
sitzend vor. Er betrachtete sie und konnte nicht sagen, wann er jemals in seinem
Leben eine so außergewöhnliche Frau getroffen hatte. Zu Anfang, als er sie kennenlernte,
empfand er Abscheu ihr gegenüber. Danach stellte sich ein Empfinden wie Mitleid
ein, aber jetzt? Wie konnte ein Mensch derart zufrieden sein, solange er etwas zu
lesen in den Fingern hielt? Ihre Gesichtszüge wirkten vollkommen entspannt. Ihre
Stirnhaut war glatt wie die eines Teenagers, und während sie las, bewegten sich
stumm und kaum sichtbar ihre Lippen. Sie saß da mit übereinandergelegten Beinen.
Diesmal wippte sie nicht zu der Musik der Worte. Sie kicherte kurz auf, ihre Augen
glänzten, und gleichzeitig schluchzte sie leise. Eine kleine Träne löste sich und
kullerte über ihre Wange. Sie sah nicht zu Martin auf, der einen Meter von ihr entfernt
stand. Emilie konnte sich mit dem, was sie las, so intensiv identifizieren, dass
sie damit jedes 3-D-Kinoerlebnis in den Schatten stellte. Was sie las, schien vor
ihrem inneren Auge lebendig und real zu werden, eine Fähigkeit, die sonst nur Kindern
zu eigen ist und die im Laufe des Erwachsenwerdens vom Leben verdrängt wird.
Leise verschwand Martin aus dem
Raum und überließ Emilie ihrer Lektüre. Er hatte sich zu Unrecht Sorgen gemacht,
obgleich er wusste, dass man sie als unberechenbar einstufen musste. Vertrauen ist
gut, Kontrolle ist besser. So heißt es doch , dachte er. Während er das Chaos
beseitigte, das Geschirr spülte und abtrocknete, dachte er nach. Von nebenan hörte
er kein Geräusch außer einem undeutlichen Nuscheln, Nasehochziehen und Kichern.
Die zentrale
Frage, die sich ihm aufdrängte, war, wie er seine Ermittlungen weiterführen sollte.
Der Wunsch, Emilie zu beschützen, war eine Sache. Den
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