Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
habe
Kaffee gemacht. Möchten Sie eine Tasse?«
Emilie nickte
und ging an Pohlmann vorbei. Mit kleinen Schritten stakste sie ins Wohnzimmer zurück,
zu ihren Büchern.
Martin brachte
ein Tablett mit einer Kanne tiefschwarzen Kaffees, zwei Tassen, einer Zuckerdose
und einem Liter Milch in einem Tetrapack-Karton. Martin setzte sich ihr gegenüber
auf einen Stuhl, während Emilie in einem der Sessel versunken war. Er reichte ihr
die dampfende Tasse, die sie über ihrem altmodischen Rock auf der Untertasse balancierte.
Während Martin sie nicht aus den Augen ließ, trank Emilie in kleinen, rhythmischen
Schlucken, und nur Gott wusste, was ihr durch den Kopf ging. Wer sie nicht kannte,
hätte nicht geahnt, dass die ältere Dame, die, wie ein zerknautschter Mantel dort
sitzend, an ihrer Tasse schlürfte, die letzten 40 Jahre keinerlei Kontakt zur Außenwelt
gehabt hatte. Erst jetzt, wo sie in ihrer kurzärmeligen Bluse mit den grün-weißen
Rüschen am Kragen hier saß und ihre Finger um die Tasse krallte, fielen Martin die
diversen Zeugen ihrer Selbstmordversuche auf. Verheilte Schnitte auf der Unterseite
beider Arme. Er erkannte zwei Narben, die quer verliefen und die Venen durchtrennt
hatten. Eine andere wulstige Hautfalte schlängelte sich längs den halben Unterarm
hinauf. Der Schnitt musste mit einem stumpfen Gegenstand verübt worden sein und
das Gewebe eher zerrissen als exakt durchtrennt haben. Die letzte Aktion dieser
Art hatte sie mit einem Küchenmesser vollführt und beinahe damit Erfolg gehabt.
Übrig geblieben waren zwei rosafarbene Striche, die sich an die alten verblassten
reihten. Ähnlich wie ein Junkie, der sich Arme und Beine zerstochen hat, hatte auch
Emilie Spuren ihrer zerstörerischen Manie auf ihrem Körper hinterlassen. Finstere
Tattoos, die mit Blut statt mit Tinte gestochen wurden.
Heute saß
sie friedlich da, und nichts deutete darauf hin, dass sie ähnliche Gedanken hegte
wie zu den Zeiten ihrer blutigen Taten.
Martin erschien
die Situation fast zu entspannt, um wahr zu sein. Es lief irgendwie zu glatt. Sie
zeigte keinerlei Spuren einer verrückten Persönlichkeit, außer ein paar Macken vielleicht,
die, wie ihn das Leben gelehrt hatte, jeder mit sich herumtrug. Zu Recht fragte
er sich, wie viele Leute deutlich bekloppter als Emilie Braun waren und nie auch
nur in die Nähe einer Psychiatrie gekommen waren, obwohl sie es bitter nötig gehabt
hätten.
Martin warf
einen Blick auf seine Uhr. Es war zwölf Uhr und sein Magen knurrte. Erst dann fiel
ihm auf, was für ein lausiger Gastgeber er doch war. Alles war überstürzt geschehen.
Der Tod von Rohdenstock in der letzten Nacht, viel zu wenig Schlaf und die ›Entführung‹
Emilies aus der Klinik. Sein Kühlschrank war bis auf ein paar Flaschen Bier fest
leer, und den Rest würde er niemandem anbieten mögen. Entweder ging er mit Frau
Braun einkaufen oder sie müssten auswärts essen gehen.
Er wägte
die Möglichkeiten ab. Worauf würde Emilie am unspektakulärsten reagieren? Ein unnötiges
Risiko wollte er auch nicht eingehen. Mit ihr einkaufen zu gehen, könnte eine Art
Schock auslösen. Er dachte an die Frau, die in seinem Wohnzimmer saß und Kaffee
schlürfte. 40 Jahre hat sie keinen Supermarkt betreten . Wie wird ein Mensch
mit derartigem Überfluss fertig, wenn er ihn nicht gewohnt ist? Wie wird sie auf
die anderen Menschen reagieren, die dort einkaufen? Wird sie friedlich bleiben oder
sich bedroht fühlen ? Martin fluchte leise. Es musste für die nächsten Tage etwas
zu essen her. Die andere Möglichkeit bestünde darin, sie in der Wohnung allein zu
lassen, die Tür gründlich von außen zu verriegeln und mit Vollgas alles zu besorgen,
was nötig wäre, eine alte Dame und einen Mittvierziger am Leben zu erhalten. Das
wäre wahrscheinlich das Beste, wären da nicht die gitterlosen Fenster, die sie zerschlagen
könnte, um sich hinauszustürzen. Unter diesen Umständen würde man ihm Beihilfe zum
Selbstmord oder fahrlässige Tötung anhängen.
Nach einer
Weile entschied er anders.
»Kommen
Sie, Frau Braun. Wir machen einen kleinen Ausflug.«
»Ans Meer?«,
fragte sie begeistert.
»Nein, nicht
ans Meer. Erst gehen wir essen und dann fahren wir ein bisschen spazieren.«
Umständlich,
noch mit der halb vollen Tasse in der Hand, quälte sie sich aus der Tiefe des Sessels
heraus. Auf der Suche nach einer geeigneten Abstellmöglichkeit blickte sie sich
um und stellte die Tasse schließlich auf dem Boden ab. Martin eilte zur
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