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Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Gustmann
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Altersweitsichtigkeit bei ihr festgestellt hatte, die jedoch nie
mit einer Brille korrigiert wurde. Dieser Umstand hielt sie nicht davon ab, Bücher
in Rekordzeit zu verschlingen, und so beschwerte sie sich auch nicht über die kleine
Schrift in der Karte. Für sie war es normal, die Augen zusammenzukneifen.
    Sie überlegte:
Wiener Schnitzel mit Röstkartoffeln oder Filet Mignon, was auch immer dies sei.
Sie entschied sich für das Wiener Schnitzel. Das gab es schon, als sie noch jung
war, und was sich so lange in den Speisekarten der Welt hält, konnte nicht so schlecht
sein. Davor bekam jeder einen Teller Brokkolisuppe und zum Dessert eine Kugel Eis.
    Der Kellner
kam an den Tisch und musterte das ungleiche Pärchen. Er zog eine Grimasse, die arrogante
Verachtung widerspiegelte. Vielleicht war er auch nur müde. Gedanken sind frei,
und so machte er von diesem Recht Gebrauch. Am Abend waren sie noch alle schnieke.
Schicke Miezen mit ihren Kerlen, aber am Tag – mein Gott, am Tag, da lassen sie
sich gehen. Kommt ja nicht mehr drauf an. Eine alte Frau mit ihrem Sohn. Oder ’ne
Tante mit ihrem Neffen. Interessant wird, wer bezahlen wird und wie viel Trinkgeld
er oder sie rausrücken wird. Die Alte oder der langhaarige Knilch?
     
    Beide orderten das Wiener Schnitzel.
Gut so, denn es waren noch zwei da, die weg mussten.
    Nachdem
Martin das Essen bestellt hatte, kam eine beklemmende Stille auf. Ein weiteres Paar,
beide um die 50, saß in der anderen Ecke des Raumes und unterhielt sich verhalten,
zumal sie, während sie die Suppe schlürften, nicht viele Worte füreinander übrig
hatten.
    Martin und
Emilie saßen sich gegenüber und benahmen sich wie fremde Menschen, die zusammen
in einem Fahrstuhl fahren. Dort, wo man zwangsweise auf engem Raum zusammengepfercht
ist, schaut man entweder auf den Boden oder auf die roten Zahlen, die das Ende der
Fahrt anzeigen. Normalerweise sieht man sich nicht gegenseitig in die Augen.
    Ob Emilie
nun normal war oder nicht, blieb dahingestellt. Jedenfalls hatte sie kein Problem
damit, Martin direkt anzuschauen, während sein Blick zu flüchten versuchte. Jeder
andere zu fixierende Punkt im Raum war für ihn willkommen, solange es nicht ihre
stahlblauen Augen waren, mit denen sie ihn anstarrte.
    Und dieses
ewige Schweigen.
    Schweigen
kann wehtun.
    Stille ist
schmerzhaft, außer in Situationen, in denen zwei Menschen sie gemeinsam wählen,
sie sogar genießen. Ansonsten, wenn sie unvermittelt auf einen trifft, in Momenten,
in denen man nicht darauf vorbereitet ist, muss man versuchen, sie auszuhalten.
    Irgendein
verfluchtes Thema muss her , schoss es Martin durch den Sinn. Wenn man
miteinander redet, dann sieht man sich an oder wenn man ineinander verliebt ist,
aber sonst nicht. Er rieb die feuchten Hände auf den Hosenbeinen trocken, und schließlich
gesellte sich ein Gedanke zu ihm, der ihm die Lösung ins Ohr flüsterte.
    »Ich habe
Ihr Buch fast durch«, sagte er mit Bedacht. Er nannte es absichtlich ›Ihr Buch‹
und nicht Geschreibsel, Tagebuch, Aufzeichnungen oder Kladde. Er wollte ihr die
Wertschätzung, die er beim Lesen ihrer Zeilen empfand, zum Ausdruck bringen. Jeder
Schriftsteller würde sich nun bedanken oder nachhaken, welche Passage denn am besten
gefallen hatte, oder andere Phrasen anbringen, um sich der Peinlichkeit des Lobes
zu entziehen. Emilie sah Martin an und lächelte. Sie wartete.
    »Sie schreiben
wirklich gut.« Schnell fügte Martin hinzu, um die Maschinerie der Konversation ins
Rollen zu bringen: »Und ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so viele
Bücher gelesen hat. Sie lieben Bücher, was?«
    Emilie Braun
nickte stumm.
    »Ich muss
allerdings zugeben, dass ich nicht jedes Ihrer Gedichte verstanden habe. Manchmal
sind sie so … traurig.« Eine kleine Pause entstand. »Aber trotzdem sehr schön«,
ergänzte er hastig.
    Emilie blickte,
ohne sich abzuwenden, in Martins Augen. Wie in einem Spiel aus Kindertagen – wer
blinzelt, hat verloren.
    »Was machen
wir hier, wenn wir nicht ans Meer fahren?« Emilie stützte ihr Kinn auf beiden Händen
auf. Sie wirkte wie ein trotziges Kind, das die Hinhaltetaktik durchschaut hatte.
Martin musste sich die Worte, die er ihr sagen wollte, genau überlegen. Innerhalb
der Anstalt hatte er unbefangen und frei mit ihr gesprochen. Im Falle eines Falles
wäre ein Pfleger, Annegret oder ein Arzt zur Stelle gewesen, doch hier, in einem
schlecht besuchten Restaurant, hatte er keinerlei Rückversicherung mehr. Ein

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