Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Täter zu finden, eine andere.
Viele Fragen spukten in seinem Kopf herum: Wie konnte man Wegleiter und Fürst überführen?
Wie viel Dreck hatten sie tatsächlich am Stecken und wie viel war erfunden und hinzugedichtet
worden? Warum konnten zwei Männer mit derartiger Vergangenheit und nachweislichen
Taten so viele Jahre unbehelligt bleiben, es sich dabei so richtig gut gehen lassen
und keinem Richter der Welt gegenüber Rechenschaft ablegen müssen? Wie viele unschuldige
Kinder hatte Dr. Fürst auf dem Gewissen, ermordet zu angeblichen Forschungszwecken?
War er wirklich in der Kinderfachabteilung in Lüneburg tätig gewesen? Martin hielt
mit einem Teller in der Hand inne. Lüneburg – Hamburg, eine gute halbe Stunde.
Warum nicht?
Einen Versuch war es wert.
Ein kleines
Puzzleteilchen innerhalb der Ermittlungen.
Martin nahm
die Pfanne in die Hand und begann sie abzutrocknen. Sein Kopf war mit anderen Dingen
beschäftigt: Wenn Fürst diese Kinder umgebracht hatte, wäre er auch in der Lage,
seine eigenen Kinder töten zu lassen? Wen haben Wegleiter und Fürst angeheuert,
um ihre ›Erzeugnisse‹ aus dem Weg zu räumen? Warum musste Strocka sterben? Hatte
der Täter im Fall Hans Keller ungehinderten Zugang zur Klinik, weil er wusste, wie
man Schlösser knackte, oder wurde ihm geöffnet? War der Mörder ein Mitarbeiter der
Klinik, wie Annegret und … Dräger? Wer war dieser Dräger – und warum hatte ihn noch
niemand bisher verhört, obwohl dies routinemäßig längst überfällig gewesen war?
Martin wischte
die Ablage für Teller trocken. Er schüttelte den Kopf. Mit jedem in der Klinik hatten
die Kollegen gesprochen. Man hatte ihr Verhältnis zu Keller abgeklopft, ob es harmonisch
war oder ob sie ihn für einen launischen Despoten hielten. Welche Patienten hatten
Zugang zu seinem Büro gehabt, wer wusste, dass er zu seinem Schutz eine geladene
Waffe in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte? Wieso schlüpfte dieser Dräger
wie ein Aal durch die Ermittlungsmaschen? Gab es einen Maulwurf im Präsidium, der
alles ausplauderte und die Ermittlungen boykottierte? Martin hängte das Trockentuch
an den Haken. Eine letzte Frage quälte ihn: Wer wird auf Feldmann aufpassen, wenn
sich der Tag und die Nacht dem Ende neigen? Der Mörder bräuchte nur einen Tag zu
warten und er hätte ein weiteres wehrloses Opfer.
In Martins
Kopf hämmerte es. Er war müde von der kurzen Nacht und brauchte dringend einen starken
Kaffee.
Als er zu
Emilie zurückkam, hatte sie eine geschlagene Stunde dort verharrt und keinerlei
Ansprüche geltend gemacht. Er setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber und beobachtete
sie.
»Es ist
schön.« Sie hielt ihm ein Buch von Carlos Ruiz Safon mit dem Titel ›Schatten des
Windes‹ entgegen. Martin nickte. Er kannte den Titel. Es ging darin um Bücher, um
einen angehenden Schriftsteller. Verständlich, dass ihr der Roman gefiel.
»Kommen
Sie. Ich möchte Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Es ist mein Gästezimmer.« Emilie erhob
sich aus ihrer Position und schien ein wenig Mühe zu haben, Blut in die stillgelegten
Adern zu pumpen.
»Darf ich
das behalten?«, fragte sie ihn.
»Klar. Nehmen
Sie es ruhig mit.«
Sie griff
nach ihrem Koffer, der noch neben der Eingangstür stand, und tippelte hinter Martin
her in das kleine Gästezimmer der Vierzimmerwohnung. Dort angekommen, blickte sie
sich um. Sie legte das Buch auf ihren Nachttisch und hob den Koffer auf das Bett,
öffnete ihn und ging zu dem Kiefernschrank. Ein Schlüssel steckte. Sie öffnete die
Tür und schien zufrieden.
»Brauchen
Sie Hilfe?«, fragte Martin. Emilie antwortete nicht. Er hatte zwar erlebt, dass
sie bezüglich ihrer Redehäufigkeit bei ihm eine gigantische Ausnahme machte, was
jedoch nicht bedeutete, dass man damit rechnen konnte, auf alle Fragen eine Antwort
zu erhalten. Nach welchem Schema sie dabei vorging, nach welchen Kriterien sie wichtige
von unwichtigen Fragen unterschied und wann sie eine Frage für beantwortenswert
hielt, blieb für die meisten Menschen in ihrer Umgebung ein Rätsel.
Sie machte
sich daran, ihren Koffer auszupacken, und ging systematisch vor. Ihre Hausschuhe
stellte sie exakt nebeneinander vor das Bett, den Morgenmantel faltete sie auseinander
und legte ihn schnurgerade ans Fußende. Den Rest der Kleidung verstaute sie im Schrank,
wie es jede geistig normale Frau auch getan hätte. Keine Anzeichen für Schwachsinn
in diesen Minuten. Martin war erleichtert. Er hatte es sich schlimmer vorgestellt.
»Ich
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