Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Garderobe
und holte den Mantel seines außergewöhnlichen Gastes. Ganz Gentleman, stellte er
sich hinter sie und hielt ihr den Mantel auf. Sie drehte sich mit dem Gesicht zu
ihm um und sah ihn fragend an. Solche Gesten der Höflichkeit und der Etikette war
sie nicht gewohnt. Martin schüttelte den Mantel und nickte mit dem Kopf. Sie schien
zu begreifen, drehte sich wieder um und willigte ein, sich den Mantel die Arme hochstreifen
zu lassen. Martin wurde klar, dass sie dies das erste Mal in ihrem Leben tat, und
er fragte sich, welche Erlebnisse noch alle auf ihn zukommen würden, die eine unerwartete
Reaktion nach sich ziehen würden.
*
Der Weg führte Martin und Emilie
aus Hamburg heraus, Richtung Lüneburg. Vorbei an Hamburg-Harburg, obwohl Harburg
im eigentlichen Sinne kein südlicher Stadtteil von Hamburg war. Fragte man Harburger,
waren sie eben Harburger und nicht Hamburger. Ein kleines, aber nicht unwichtiges
Detail!
Während
Martin auf der A7 Richtung Lüneburg fuhr, überlegte er, wo er mit Emilie einkehren
könnte. Schließlich fiel ihm ein geeignetes Gasthaus ein. Martin kannte es aus früheren
Tagen. Ein nettes, abgelegenes Restaurant, wo man gut und unbehelligt essen könnte.
Ein Ort, weit genug von Hamburg entfernt, wo man weder ihn noch Emilie Braun kannte.
Dort, wo verliebte Paare am Vorabend ein Candle-Light-Dinner genossen hatten, würden
Martin und Emilie Essen von der Mittagskarte wählen, ohne romantische Beschallung
durch einen italienischen Barden wie Eros Ramazotti oder Angelo Branduardi, ohne
Kerzenschein und anzügliche Annäherungsversuche.
An der Ausfahrt
Seevetal-Fleestedt bog er auf die B4 ab. Wenige Kilometer auf gerader Strecke, schon
kam er am Gasthof ›Zur grünen Linde‹ an. Er stellte den Wagen auf dem leeren Parkplatz
ab und schaltete den Motor aus.
Martin ging
voran, überzeugte sich durch einen Blick über die rechte Schulter, ob Emmi ihm folgte,
und wählte im Inneren des Lokals einen der freien Tische. Er zog die Jacke aus und
hängte sie eilig über den Stuhl. Er ging zu Emilie und nahm ihr den Mantel ab, dem
noch der Geruch nach Kleiderschrank und Mottenkugeln anhaftete.
Emilie blieb
genau auf der Stelle stehen, an der er sie verlassen hatte, und sah ihm nach, als
er den Mantel an einen Garderobenhaken hängte. Martin kam zu ihr zurück.
»Setzen
Sie sich doch«, forderte er sie auf und deutete auf den Stuhl, der vor ihr stand.
Ungerührt zog sie den Stuhl vom Tisch ab und nahm darauf Platz.
Der Raum,
in dem noch am Abend zuvor lebendiges Stimmengewirr die Rauchschwaden durchschnitten
hatte, wirkte kalt und leblos. Ein Kellner, der aussah wie ein Pinguin mit zu langen
Flügeln und einem Bauch, über den sich die Weste spannte, bemühte sich an den Tisch.
Eben der Nacht entkommen, war er angehalten, das klägliche Mittagsgeschäft in dem
von Durchreisenden besuchten Dorf auch noch mitzunehmen.
Einheimische
aßen woanders.
Inmitten
vom kalten Rauch des Vorabends erhielt man ein liebloses Drei-Gänge-Menü für 9,90
Euro. Dass damit Reste vom Vortag unter die Leute gebracht wurden, erzählte man
dem Gast nicht. Der vermutete es allerdings, sobald er aß.
Der Kellner
gähnte verschämt und legte Martin und Emmi die Speisekarten vor. Wieder so eine
Sache, die Emilie, selbst mit 70 Jahren, erst lernen musste. In früheren Zeiten,
als sie noch ›draußen‹ war, hatte sie das eine oder andere Mal auswärts gegessen.
In einer Erinnerung, die sie nicht pflegte, wurde sie im Alter von 28 Jahren von
einem Verehrer in ein Restaurant geführt, der nichts anderes im Sinn hatte, als
unter dem Tisch an ihrem Bein entlangzustreicheln. Sie kam erst gar nicht dazu,
eine Speisekarte in die Hand gelegt zu bekommen. Noch bevor sich der Kellner dem
Tisch nähern konnte, hatte sie dem Mann, der neben ihr saß, eine Ohrfeige verpasst
und das Lokal verlassen. Danach mied sie diese Orte, zumal sich keine Gelegenheit
mehr ergab, eingeladen zu werden. Ein Jahr später wurde sie wegen schwerer Körperverletzung
zunächst inhaftiert und schließlich in Norderstedt das erste Mal eingeliefert. Das
war jene Geschichte mit dem Messer und dem Kerl, der ihr an die Brust fasste.
»Schon mal
was zu trinken vorab, die Herrschaften?« Der Pinguin wartete.
»Zwei Wasser«,
orderte Martin und nahm den Blick nicht von der Karte. Über den Rand hinweg beobachtete
er Emilie.
Sie las
die Karte mit zusammengekniffenen Augen. Annegret hatte ihm erzählt, dass ein Augenarzt
Jahre zuvor eine
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