Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
auszusprechen. Sie müssen es sich mal ansehen. Es ist wirklich lesenswert.«
»Ja, gern.«
»Gut. Kommen
Sie. Mir läuft die Zeit davon. Ich habe es ziemlich eilig.« Martin wandte sich zu
Emilie, die durch die Gänge gegangen war und sich alles genau ansah. Jedes Gesicht
schien sie in blankem Entsetzen anzustarren. Dann hörte man sie kichern und Namen
aussprechen. Sie erkannte Kinder, mit denen sie auf der Station zusammen war. Martin
ging zu ihr und ergriff vorsichtig ihren Arm, um sie mit sanftem Zug von ihrer Vergangenheit
zu lösen. »Kommen Sie, Emilie. Catharine macht Ihnen einen Tee, während ich mir
noch ein paar Dinge ansehen muss.«
Emilie bedachte
Martin mit einem flehenden Blick. »Nicht wieder allein lassen, bitte.«
»Versprochen.
Ich lasse Sie nicht wieder allein. Ab jetzt passe ich auf Sie auf.«
In den darauffolgenden zwei Stunden
bewirkte Catharine Bouschet das Unmögliche. Nicht nur, dass sie es, ähnlich wie
Martin, schaffte, Emilie zum Reden zu bringen, sondern sie erreichte, dass sie die
Dinge ihrer Kindheit wie unter Hypnose erzählte. Was Professor Hans Keller nicht
gelungen war, gelang Catharine wie durch ein Wunder. Durch die Konfrontation mit
den Fotos ihrer Peiniger schienen für Emilie Braun die Türen geöffnet worden, die
sie aus einer beinahe lebenslangen Verschlossenheit befreit hatten.
Währenddessen
kniete Martin Pohlmann mit seiner ruinierten Hose auf dem Archivboden der Gedenkstätte.
Vor ihm lagen an die 50 Patientenakten, die chronologisch nach Aufnahmedatum geordnet
waren. Die restlichen 50 Handakten von Kindern, nach denen man seit vielen Jahren
gesucht hatte. Durch einen Zufall fand man sie in einem Kellerloch, dort, wo eine
Spitzhacke ein fußballgroßes Loch in die Wand gebrochen hatte. Man entdeckte eine
vermauerte Nische, in der all diese Beweise in einer Holzkiste verrotteten. Akten
jener 50 von über 300 Kindern, deren Verbleib bisher ungeklärt war. Nun lagen bei
schlechtem Licht und modrigem Geruch die Aufzeichnungen über diejenigen vor ihm,
an die seit langer Zeit niemand mehr gedacht hatte.
Da die Akten
nicht nach Namen geordnet waren, musste Pohlmann jede der Unterlagen öffnen und
die Namen lesen. Beinahe am Ende seiner Hoffnung und ohne schlüssigen Beweis für
die Misshandlung seiner Zeugin, hielt er schließlich die Akte, nach der er gesucht
hatte, in den zitternden Händen. Er betrachtete ein Foto von der vierjährigen Emilie
Braun. Er schloss die Akte und richtete seine schmerzenden Beine auf. In einer Ecke
stand ein einfacher Tisch mit einem klapprigen Stuhl davor, auf den er sich setzte.
Er begann zu lesen.
Kind bekannt
als Emilie Braun
Aufnahme
in die Kinderfachabteilung Lüneburg: 9. Sept. 1944.
Vater: Erich
Braun, verstorben. Mutter: Anneliese Braun; verstorben.
Einlieferung
durch Dr. Willi Kuhn, Stationsarzt Lb. Heim Friesland, Hohenhorst (Bremen)
Vorbehandlung
durch Prof. Kranitz, Weiterbehandlung durch Dr. R. Fürst.
Befund:
Verdacht auf organische Hirnstörung.
Das Mädchen
E. Braun verhält sich abweisend gegenüber Pflegepersonal. Bei Berührungen beginnt
sie zu schreien. Ist bei Kontakt mit anderen Kindern indifferent, nicht per se ablehnend.
Verdacht auf erb- und anlagebedingte Störung.
Das Kind
ist nicht bildungsfähig und der Therapie zuzuführen.
Zu erwartende
Todesursache: kruppöse Unterlappenlungenentzündung.
Martin schlug
nachdenklich Seite für Seite in der Akte um. Detailliert waren alle Versuche, die
man an ihr gemacht hatte, notiert. Ein Wunder, dass sie noch am Leben war. Er verschloss
das Dokument der Unmenschlichkeit. Er hatte genug gelesen, um Fürst und das übrige
Nazipack bis zu seinem Lebensende hassen zu können.
Ein fröstelndes
Zittern erfasste ihn. Es war eine Sache, einen medizinischen Bericht von einem fremden
Menschen in die Hand zu bekommen und ihn ohne Anteilnahme zu lesen, es war eine
andere Sache, einen detaillierten Bericht über einen Menschen aufmerksam zu studieren,
den man kannte, den man mochte, dem man nahestand. Dinge, die sich lasen wie Foltertechniken
oder Experimente an Ratten, nur mit dem Unterschied, dass es kleine Kinder waren,
von denen man schon im Voraus wusste, dass man sie später im Zuge einer Säuberungsaktion
töten würde. Kinder, denen man das Recht auf Leben verweigerte, weil man meinte,
dass sie zu anders waren. Es passte nicht ins Bild arischer Herrenmenschen, einen
Behinderten oder Unangepassten am Leben zu lassen, ihn zu pflegen und aufzupäppeln
und in die
Weitere Kostenlose Bücher