Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Eine vom Opfer, eine vom Täter. Mit Genugtuung betrachtete
er, was er, zugegebenermaßen mit viel Glück, herausgefunden hatte.
Erschöpft
verließ Pohlmann das provisorische Archiv und suchte Emilie und Catharine Bouschet
im Nebengebäude. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie bereits geschlagene vier
Stunden hier waren. Stunden, die ihm unendlich lang vorgekommen sind, in denen er
Zeugnisse von Unmenschlichkeit gefunden hat, die man in Ewigkeit nicht vergessen
würde.
Kapitel 49
Lüneburg, 11. November 2010
In der Krankenhauskantine, wenige
Schritte von dem provisorisch eingerichteten Archiv entfernt, fand Martin Catharine
und Emilie Braun in Eintracht an einem Tisch sitzen. Frierend und mit steifen Gliedern,
bot sich ihm ein Bild, als säßen Mutter und Tochter beieinander. Was in Anbetracht
der psychischen Verfassung von Emilie surreal wirkte, war die Unbeschwertheit und
Gelassenheit, ja, die Heiterkeit, die nicht ins Bild passte. Vor wenigen Stunden
war Emilie Braun dem Mann begegnet, der sie 65 Jahre zuvor töten wollte, es aber
aus einem noch unbekannten Grund nicht getan hatte. Vielleicht, weil er gegen Kriegsende
keine Gelegenheit mehr dazu hatte. Vielleicht kamen ihm auch Skrupel wegen seines
Handelns; eine Vermutung, die abwegig erschien, zumal Emilie, gemäß der Einträge
in ihrer Krankenakte, für die ›Therapie‹ mit Luminal vorgesehen war, und dies bedeutete
für die Kinder einen langsamen, qualvollen Tod. Den zur Tötung bestimmten Kindern
und Jugendlichen wurden zunächst jeweils drei bis fünf Luminal-Tabletten verabreicht,
woraufhin sie sofort einschliefen. Unmittelbar nach dem Erwachen erhielten sie eine
weitere Dosis, bis sie bewusstlos wurden, Atemnot bekamen, zu röcheln begannen und
unter Schleimaustritt aus Mund und Nase nach drei bis acht Tagen, je nach Konstitution,
verstarben. Die Reaktion auf das Medikament wurde gewissenhaft aufgezeichnet, damit
Rückschlüsse auf Wirksamkeit in Abhängigkeit von Dosis, Alter und Geschlecht des
Probanden gezogen werden konnten.
Emilie schien
es irgendwie geschafft zu haben, sich dem Zugriff ihrer Häscher zu entziehen. Und
nun, nach der zwar nur bildlichen Gegenüberstellung und Identifizierung des skrupellosen
Mannes, saß sie da und schwatzte mit einer 30 Jahre jüngeren Frau, als wäre alles
in bester Ordnung, als wolle ihr niemand nach dem Leben trachten und als würde sie
ihr Dasein als schön und lebenswert empfinden, obgleich diverse Suizidversuche in
der Vergangenheit auf eine andere Gemütsverfassung schließen ließen. Martin verstand
zu wenig von psychologischen oder psychiatrischen Dingen, um beurteilen zu können,
was normal war oder nicht. Er wusste von schizoiden Verhaltensweisen, bei denen
der Patient manchmal mehr als zwei Persönlichkeiten in seinem Inneren beherbergte.
Mal gewann die eine oder die andere die Oberhand, wie in einem Kartenspiel, wo die
Dame, der König oder der Joker das Rennen machten. Nach welchen Regeln dieses Spiel
jedoch gespielt wurde, wollte er gar nicht wissen. Es war nicht Teil seines begreifbaren
Horizontes, wieso es ein Mensch als Berufung empfinden könne, sich mit jener Hingabe
um solche Leute wie Emilie zu kümmern, so, wie es sich gerade vor seinen Augen abspielte.
Mutter – Tochter; ältere Dame – jüngere Frau; Therapeutin – Patientin. Die Grenzen
verwischten ins Unendliche. Fakt war jedoch, dass Emilie Braun zu einer wahren Plaudertasche
mutiert war. Sie lachte sogar. Unglaublich. Was war hier los? Martin stand im Türrahmen
und betrachtete die Szene mit mehr als einem Staunen. Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit
und Bewunderung. Die Anspannung des Tages, ja, der letzten Tage, schien sich zu
verflüchtigen, und fände er einen Weg, diese Oase des Friedens zu konservieren,
er ließe es sich patentieren.
Doch was
war passiert? War es der heilsame Schock und Anfall, der ein Jahrzehnte währendes
Trauma geheilt hatte, als wäre es nie da gewesen, oder ging von Catharine, einer
Frau, die er nicht kannte, aber unbedingt kennenlernen wollte, eine beruhigende
und heilsame Wirkung aus? Ihre Persönlichkeit, ihr Charisma, ihre Einfachheit, ihr
Glaube? Martin nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit herauszufinden, doch noch
war in seinem Leben nicht genügend Platz für sie. Nicht, solange ein Killer durch
die Straßen Hamburgs streifte und ein Opfer nach dem anderen liquidierte. Nicht,
solange sein Job an einem seidenen Faden hing und er einen Fehler nach dem anderen
ausbügeln
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