Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Gesellschaft zu integrieren.
Martin verbarg
sein Gesicht in den auf dem Tisch aufgestützten Händen und konnte nicht fassen,
wie man einem Kind Derartiges antun konnte. Dass aus Emilie wurde, was sie war,
konnte er nun gut verstehen. Ihre Abneigung, sich berühren zu lassen, ihre Verweigerung,
sich jemandem mitzuteilen, eingehüllt in den dringenden Wunsch, sich von lebendigen
Menschen fernzuhalten. Die Toten indes machten ihr nichts aus. Die zwar aus Büchern
zu ihr sprachen und über dies und das erzählten, die ihr aber nicht zu nahe kommen
konnten. Vor diesem Hintergrund wurde es ihm immer unverständlicher, wie Catharine
es geschafft hatte, ihr eine solche Nähe zu bieten, ihr eine Zuflucht zu sein und
über ihren Kopf streicheln zu können.
Martin sah
sich in dem kargen Raum um, in dem auf dem Boden nur Bruchteile der Akten von Kindern
lagen, die in dem Zeitraum zwischen 1940 und 1945 in Deutschland von Ärzten, Pflegern
und Schwestern misshandelt und getötet worden waren. Jener Zunft, die sich den Eid
des Hippokrates auf die Fahne geschrieben hatte. Die Basis ethischen ärztlichen
Handelns, insbesondere das Gebot, Kranken nicht zu schaden, geschweige denn, sie
zu töten.
In einer
anderen Ecke, in der er sich noch nicht umgesehen hatte, bemerkte er Akten, die
eine andere Farbe hatten und anderen Inhalt zu verbergen schienen. Müde und deprimiert
ging er zu diesem Stapel, mehr aus Neugier als von Hoffnung getrieben, und kniete
erneut auf dem Boden. Draußen war die Dämmerung hereingebrochen, und die Dunkelheit
legte sich wie ein hungriger Schatten auf seine Seele.
Er sah einen
Haufen zerfledderter Papiere durch. Ein besonderer Umstand erregte seine Aufmerksamkeit.
Es handelte sich nämlich nicht um Akten weiterer Kinder, sondern um Personalakten.
Er konnte sein Glück kaum fassen. Er schlug mit zunehmender Geschwindigkeit eine
Akte nach der anderen auf, und tatsächlich: Es waren alle in der Klinik angestellten
Pfleger, Schwestern und Ärzte aufgeführt, nur in welchem Zeitraum, konnte er nicht
erfassen. Schließlich gab es die Psychiatrische Klinik in Lüneburg seit 100 Jahren,
und er hielt es für unwahrscheinlich, dass man Akten aus der Zeit von vor dem Krieg
verstecken müsse.
Wie im Fieber
suchte Martin nach einem bestimmten Namen. Er näherte sich dem Ende des Stapels,
und mit jeder Akte, in deren Innenseite nicht der Name von Dr. Richard Fürst zu
finden war, verlor er weiteren Mut. Die vorletzte war jene, die ihn jubeln ließ.
Sofort erkannte er das Bild, überflog die Vita, verglich sie im Kopf mit den Daten,
die er aus anderen Dokumenten von Prof. Keller kannte, und suchte nach den Einträgen,
die Fürst den Kopf kosten würden. Das scharf umrissene Aufgabengebiet des aufstrebenden
und skrupellosen Arztes, der seine Dissertation bei dem berühmten Professor Kranitz
schreiben durfte.
Das Licht
in dem Raum wurde zunehmend schlechter oder es lag daran, dass sich Martin nicht
mehr auf das Geschriebene konzentrieren konnte. Die Buchstaben verschwammen vor
seinen Augen. Er war am Ende seiner Kräfte und hielt endlich in den Händen, was
ihm bei der Beweisführung weiterhelfen würde. Wenn man beweisen konnte, dass Fürst
sich aktiv an den Kindstötungen beteiligt hatte, würde ein neues Verfahren eröffnet
werden. Mord verjährte in der Bundesrepublik Deutschland nicht, und damit würde
der arrogante Alte den Rest seiner Tage in einer Zelle verrotten. In einem schicken
Kimono mit eleganten Hausschuhen, die sich nach kurzer Zeit andere Häftlinge unter
den Nagel reißen würden.
Dieser Beweis
war ein starkes Motiv, Emilie Braun aus dem Weg räumen zu lassen. Fürst konnte nicht
zulassen, dass sie sprach, ihn identifizierte und als Zeugin in einem Mordprozess
aussagen würde. Was Fürst betraf, ging es schon lange nicht mehr darum, als Vater
irgendwelcher von ihm gezeugten Kinder geoutet zu werden. Sollte öffentlich durch
die Medien bekannt gemacht werden, dass Dr. Fürst ein Massenmörder war, wäre der
Ruf der Klinik bis in alle Ewigkeit ruiniert, und auch sein Sohn würde keine Anerkennung
mehr finden. Man würde davon ausgehen, dass er wusste, welche Gräueltaten sein Vater
begangen hatte.
In diesem
Augenblick kam Martin auf eine Idee. Was wäre, wenn gar nicht der Vater der Auftraggeber
der Morde wäre, sondern, wenn es dessen Sohn getan hätte. Zu verlieren hätte er,
nach dem, was Martin nun alles wusste und beweisen konnte, wahrlich eine Menge.
Martin Pohlmann
verstaute die beiden Akten.
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